Vergebung

Vergebung

Nicht selten wird gegen die Möglichkeit von Menschen, sich etwas in der Vergangenheit Geschehenes  zu vergeben, argumentiert, dass Nachsicht ihre Verantwortlichkeit untergraben würde. Aber das Gegenteil ist der Fall: nur durch Vergebung kann etwas unwiderruflich Geschehenes – und all unser Tun ist im Kern unwiderruflich – ungeschehen gemacht und damit ein neuer Anfang gesetzt werden. Vergebung ist nicht Nachsicht, sondern Voraussicht. Insofern ist Vergebung die einzige Möglichkeit, dass sich Menschen gegenseitig Freiheit ermöglichen.

Niemand anders als Hannah Arendt hat – durchaus überraschend – diese Zusammenhänge als eine der ersten sehr klar herausgestellt und auch mit dem christlichen Glauben in Verbindung gebracht. Das Heilmittel überhaupt gegen die Unwiderruflichkeit des Geschehenen sei Verzeihung – genauso wie das Heilmittel gegen die Unabsehbarkeit alles Zukünftigen in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten läge. „Können wir einander nicht vergeben, d.h. uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wieder entbinden, so beschränkt sich unsere Fähigkeit zu handeln gewissermaßen auf eine einzige Tat, deren Folgen uns bis an unser Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen würden, im Guten wie Bösen; gerade im Handeln wären wir das Opfer unserer selbst, als seien wir der Zauberlehrling, der das erlösende Wort: Besen, Besen, sei es gewesen, nicht findet.“

Arendt weist dann darauf hin, dass es wohl Jesus von Nazareth gewesen sei, der das Vermögen zu verzeihen, als erster entdeckt hätte. Damit wäre es allerdings nicht auf religiöse Zusammenhänge begrenzt. Sie zitiert in dieser Hinsicht Jesus mit seiner Behauptung, dass nicht nur Gott die Macht habe Sünden zu vergeben, sondern auch Menschen. Und sie deutet die Bitte des Vaterunsers um die Vergebung Gottes unserer Schuld, „so wie wir vergeben unseren Schuldigern“ als etwas, das von den Menschen ausgeht. Und verallgemeinert: „Das menschliche Leben könnte gar nicht weitergehen, wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen dessen befreien würden, was sie getan haben. … Nur durch dieses dauernde gegenseitige Sich – Entlasten und Entbinden können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen, auch in der Welt frei bleiben und nur in dem Maße, in dem sie gewillt sind, ihren Sinn zu ändern und neu anzufangen, werden sie instandgesetzt, ein so ungeheures und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der Freiheit und des Beginnen gleichermaßen zu handhaben.“ Dabei bezieht sich das Vergeben stets auf die Person und niemals auf die Sache, und entlässt die Person deswegen in keiner Weise aus der Verantwortung für ihr Tun, für das sie dennoch zur Rechenschaft gezogen werden muss. Allerdings geschieht dies dann nicht mehr in Form der Rache.

Auch andere Philosophen und Soziologen haben sich immer wieder mit der Möglichkeit der Vergebung auseinandergesetzt. Und sie betonen allesamt, dass in der Vergebung von erfahrenem Unrecht die einmalige Chance zur Durchbrechung einer Handlungslogik liegt, die ansonsten aber den Gesetzen des Sozialen zuwiderläuft. Es ist der Verzicht auf Gegenseitigkeit, der Vergebung zu einem Akt macht „der die sozialen Gesetze des Zusammenlebens durchbricht und andererseits durch das nicht erwartbare und nicht einforderbare Angebot zur kooperativen Nachsicht überschreitet“ (Sonja Fücker). In dieser Perspektive ist Vergebung geradezu etwas Kontrafaktisches und Irritierendes – jedenfalls etwas, was nach der Alltagslogik ganz und gar nicht zu erwarten ist. Es widerspricht in gewisser Hinsicht den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Wiedergutmachung und bedroht so die soziale Ordnung.

Nun zeigt allerdings die herausragende empirische Studie von Sonja Fücker, dass sich Vergebung in der Regel durchaus sinnvoll in ein soziales Handlungsgefüge einordnet, denn sie tritt in der Regel dann auf, wenn Ausgleichshandlung wie Rache und Vergeltung verzichtbar sind oder wenn das durch Vergebung ermöglichte Vergessen und Verdrängen von Krisenereignissen für das eigene Wohlbefinden hilfreich ist. Ihre Schlussfolgerung ist, dass empirisch erfassbare Vergebung nicht durch den Verzicht auf Rache zu erklären sei, sondern: „Im Zentrum von den in der Studie rekonstruierten Vergebungsstilen steht vielmehr das Tolerieren, Akzeptieren oder Wiedergutmachen und Ausgleichen menschlicher Fehlbarkeit und Schuld. Der Weg dorthin sind einerseits kommunikative Aushandlungsprozesse mit Konfliktpartnerinnen und andererseits subjektive Gedächtnisvorgänge des Vergessens und Verdrängens von Betroffenen.“ Damit bleibt allerdings die Vergebung als symbolischer Akt ein wichtiger Schritt für die Wiederannäherung zwischen Konfliktpartnern und ist nicht durch Äquivalenzhandlungen ersetzbar. In diesem Tun agieren Menschen ihr autonomes Selbst aus, „indem die wohlwollende Nachsicht gegenüber Mitmenschen als ein erwünschter Seinsmodus betrachtet wird.“ Man muss nicht vergeben – aber man kann es tun. Und gerade so behält man sich selbst im Griff.

Im Endeffekt, so kann es Sonja Fücker sehr plausibel beschreiben, heben die heute anzutreffenden sozialen Praxen die Logik der Vergebung auf. Ein sozialer Neubeginn wird durch Verstehen möglich, ohne dass die Verursacher von ihren Taten und ihrer Schuld entbunden werden. Sobald Handlungen, Motive oder Situationen im Sinne gelingenden Fremdverstehens entweder akzeptierbar oder tolerierbar erscheinen ist der andere bereits entschuldigt und es bedarf einer besonderen Geste nicht mehr. „Und somit macht das Akzeptieren oder tolerierende Verstehen das Vergeben kurzum zu etwas anderem als das, was es sein soll, indem Betroffene ein Krisenereignis – ex post  – so auslegen, dass es gar keines ist.“  Genau genommen sind die modernen Stile von Vergebung deswegen rein fiktiv, d.h. sie kommen „in Kontexten zum Einsatz, die ihrer gar nicht bedarf“. Vergebung degeneriert zur Gedächtniskosmetik. Sie behält allerdings eine eminent gemeinschaftsfördernde oder sie wiederherstellen Wirkung, auch wenn von eigentlicher Vergebung gar nicht mehr gesprochen werden kann . „Die zum Vorschein kommende Illusio der Vergebung wird für die an dem Konflikt Beteiligten zu einem gewinnbringenden Geschehen, das – ganz im bourdieuschen Sinne –  nicht in der Interesselosigkeit oder Selbstlosigkeit seinen Ursprung hat.“

Das Pathos von Vergebung in einem religiösen Sinne als Erbringung eines Opfers zugunsten eines anderen, der dies nicht verdient hat, wird so im Alltag der Menschen umgebogen in ein durchaus interessebezogenes Verhalten, das symbolisch nach wie vor aber von diesem Pathos lebt. Sollte man wirklich sagen, dass es sich in dieser Hinsicht realisiert? Es scheint mir so zu sein, dass hierin zumindest eine vergessene Einsicht der christlichen Tradition  gut zum Tragen kommt,  dass nämlich beide, Täter und Opfer, auf Vergebung angewiesen sind.  Wann wäre schon das Opfer einfach gut und der Täter einfach schlecht? Beide sind auf das schlechthin Gute Gottes angewiesen. Jeder braucht Vergebung – und nur deswegen ist sie möglich. (Kierkegaard)