Legitime Selbstbezogenheit

Legitime Selbstbezogenheit

Immer wieder äußern sich Menschen abfällig über andere und nutzen dafür sogar äußere Merkmale wie die Farbe der Haut, die Rasse, körperliche Defizite oder anderes. Auch die völkische Zugehörigkeit kann in dieser Hinsicht sehr nützlich sein und stellt deswegen ein unendliches Reservoir von unbewiesenen Urteilen dar. Wenn man so etwas erlebt, kann das ausgesprochen unangenehm sein, insbesondere dann wenn man selbst zum Opfer solcher Abwertungsprozesse wird. Es gibt genügend Beispiele in der Geschichte, dass eine solche Praxis nicht allein bei sprachlichen Äußerungen bleibt sondern unter gewissen Bedingungen auch zu Mord und Totschlag bis hin zum Völkermord führt. Insofern kann es für aufgeklärte Menschen nur darum gehen, ansprechendes Verhalten, wo immer es auftritt, zu kritisieren oder auch richtiggehend zu unterbinden.

Allerdings stellt die reale Erfahrung von Diskriminierung, also die direkt erfolgende Verächtlichmachung und/oder reale Benachteiligung von „anderen“ im Verhältnis zur tatsächlichen Existenz z.B. von Rassismus wahrscheinlich nur die berühmte Spitze des Eisbergs dar. Sehr viel häufiger als eine abwertende Zuwendung zu anderen erfolgt sicherlich eine gleichfalls de facto abwertende Abwertung zum Beispiel in Form von Gleichgültigkeit, die sich von innen aber als eine legitime Selbstbezogenheit begreifen lässt. Beispiel dafür gibt es in Massen. Es geht darum, dass Menschen eine Begegnung oder auch nur eine gewisse Nähe zu anderen mit der Begründung meiden, dass sie einen ja nichts angingen und er oder sie sich auch ohnehin nicht für diese Menschen weiter interessieren würde. Dahinter mag ein Bündel an Motivationen stecken, wie Angst oder etwas anderes. Entscheidend ist jedoch, dass solchen Äußerungen von legitimer Selbstbezogenheit niemand plausibel widersprechen kann. Wenn sich jemand für etwas eben nicht interessiert, dann ist es ganz schwierig demjenigen dennoch den Sinn einer Auseinandersetzung plausibel zu machen. Erst dann, wenn in unserem Fall tatsächlich etwas Böses geäußert werden sollte, könnte es zu einem gewissen Engagement kommen. Aber solange das elegant unterbleibt, bleibt das Diskriminierungssyndrom vorhanden und kann, weil es nicht thematisiert wird, nicht wirklich bekämpft werden. Indifferenz, Desinteresse ist die legitime Form von Diskriminierung. Schwierig wird es dann, wenn sich dieses Verhalten als Arroganz zeigt. Das mögen wir dann nicht. Aber sie ist eigentlich auch nichts anderes als eine – nicht wirklich gekonnte – Aufrechterhaltung der eigenen Autonomie.

Welche Möglichkeiten gibt es, Formen von Selbstbezogenheit als illegitim erfahrbar zu machen? Anders gesagt: wie können Menschen dazu gebracht werden, ein Interesse für andere zu entwickeln, denen sie entweder negativ gegenüberstehen oder deren Nähe sie fürchten? Der Weg über gesteigerte Moralisierung, der gerne gegangen wird, weil er den Moralisierer so schön ins helle Licht setzt und insofern im Prozess selbst höchste Befriedigung verschafft, ohne dass dadurch irgendetwas bewirkt werden würde, scheint mir nicht gangbar zu sein. Sein Effekt ist lediglich, dem Diskriminierer die Basis eines ehrenvollen gemeinsamen Verhaltens zu entziehen, was denjenigen aber nicht weiter kratzen wird. Auch dem kann er sich durch Bezug auf sein legitimes Eigeninteresse wohl begründet ziehen.

Wirkliche Veränderungen treten nur dann ein, wenn sich das Eigeninteresse selbst verändert. Das kann durch Begegnungen geschehen; aber nur dann, wenn eine menschliche Offenheit für den anderen existiert. Erfahrungen aus der Zeit des Dritten Reiches zeigen, dass vor allem diejenigen Menschen den Juden halfen und sich erheblichem eigenem Risiko auszusetzen, zu deren Selbstbild das, was den Juden geschah, überhaupt nicht passte. Sie waren deswegen nicht nur in der Lage zu sagen: „Ich nicht!“ Sondern sahen sich genötigt, einzugreifen.