Leitung
Leitung
Seit seinen Anfängen hat sich das Christentum damit befasst, was unter Leitung zu verstehen sei. Dabei hat man naturgemäß viel aus säkularen Leitungstraditionen übernommen, aber auch eigene Akzente gesetzt, insbesondere in der mönchischen Tradition. Von da aus hat es wiederum Rückwirkungen auch in die Bereiche der Wirtschaft hinein gegeben. Allerdings ist deutlich, dass Leitung in der christlichen Kirche immer geistliche Leitung sein will und genau dieser Aspekt im säkularen Bereich nicht greifen soll. Wenn dem so wäre, dann würde man die Welt in zwei Bereiche aufteilen, von denen die geistliche Gewalt nur in einem wirklich regieren könnte.
Dieser Alternative kann man aber entgehen, wenn man genauer fragt was Leitung im christlichen Sinne eigentlich sein soll. Sie ist zunächst einmal, genau wie im säkularen Bereich weitgehend auch, Leitung durch Leitungsverzicht. Nur im Notfall wird etwas direkt angeordnet: wirkliche Leitung hilft den zu Leitenden, sich selbst zu leiten und von sich aus die Dinge so zu tun, wie sie getan werden müssen. Das Handeln der Geleiteten ist insofern immer ein Auftragshandeln, was ein mehr oder minder hohes Maß an Freiheit und damit verbunden an Selbstverantwortung impliziert. Das schließt spezifische Konstellationen von Befehl und Gehorsam allerdings nicht von vornherein aus.
In der christlichen, besonders in der protestantischen Tradition, wird nun diese Form der Selbstleitung noch besonders dadurch sakralisiert, dass sie aus einem religiösen Motiv herrührt: dem der Berufung. Es kann hier vorausgesetzt werden, dass jeder Mensch über eine von Gott ausgehende Berufung seiner selbst bzw. seines selbst verfügt, die jedoch entdeckt werden muss. Dazu verhelfen andere Menschen in der Familie, der Schule und Ausbildung, der Kirche und – nicht zuletzt, sondern zuvörderst – die Leitenden auf der Arbeit. Sie tun dies auf jeden Fall durch ihr Verhalten und durch ihre Ansprache auch wenn Ihnen diese ihre Funktion gar nicht bewusst ist. Sie können diese Funktion jedoch auch bewusst ausüben und somit den spezifischen Arbeitsplatz als ein Feld gestalten, in dem das Erkennen, Einüben und Ausüben der eigene Berufung ermöglicht wird. Von vornherein ist deutlich, dass von diesem Verständnis her Arbeit immer weit mehr ist als lediglich die Ausübung technischer Vollzüge oder die Herstellung von Zweckmittelrelationen. Sie besteht immer in einer Applikation von mir selbst auf meine Umwelt. Sie ist von mir selbst nicht zu trennen – es kann allerdings sein, dass sie mich selbst dadurch beschädigt, dass eine Ausübung meiner Berufung durch die Art ihrer Gestaltung nicht mehr möglich ist.
Leitung ist in dieser Hinsicht folglich diejenige Tätigkeit, die zur Freisetzung der Berufung der mir Anvertrauten führt. Eine gewisse Ähnlichkeit hat dies mit dem, was heute als gabenorientiertes Management bezeichnet wird. In früheren Zeiten erfolgte dies sicherlich in Form einer matriarchalischen oder patriarchalischen Haltung, die den zu Leitenden in einer Mischung aus Schutz und Druck in die von der Leitung erkannte Berufung hineinschob. Das zeitigte natürlich erhebliche Probleme für diejenigen, deren Berufung sich so nicht erkennen ließ – aber es sorgte auch für beträchtliche Sicherheiten bei vielen anderen. Auch heute wird es noch Anteile dieses Ethos geben, grundsätzlich aber wird eine moderne berufungsorientierte Leitung nicht ohne einen aktiven Dialog auf Augenhöhe auskommen können. Aber ob nun in traditioneller oder moderner Fassung: eines bleibt diesem Leitungsverständnis inhärent: der oder die Leitende bindet sich an die zu Leitenden und ist deswegen prinzipiell bereit, mit ihnen zu leiden, d.h. sich selbst an ihre Weiterentwicklung, ihr Schicksal, zu binden. Wie sie sich entwickeln und was aus ihnen wird, ist ihm oder ihr nicht gleichgültig sondern affiziert sie „im Herzen“. Wie weit dies im Einzelnen gehen kann wird unterschiedlich sein aber das Prinzip gilt. Leitende müssen folglich von ihren zu Leitenden auf deren Eigenentwicklung hin ansprechbar sein.
Es liegt auf der Hand, dass ein solches Leitungsverständnis Folgen für das Verständnis eines Betriebes oder eines Unternehmen haben muss. Es kann in dieser Sichtweise keine Maschine sein, in der die Einzelnen nur spezifische funktionale Teile darstellen, die mehr oder minder beliebig ausgewechselt werden können. Das Ganze ist durchaus ein organisches Gebilde, so etwas wie ein Bund von Menschen, die sich durch ihre Verträge versprochen haben, miteinander spezifische Ziele zu erreichen. Dass dies in heutigen Zeiten äußerst dynamisch ist, ist selbstverständlich. Die Anforderungen an alle Beteiligten sind nicht gering und umso wichtiger ist eine Leitung, die beständig mit den Mitarbeitenden entsprechend kommuniziert. Natürlich kann es so sein, dass sich spezifische Berufungen in einem spezifischen Unternehmen nicht immer umsetzen lassen. Dann gilt es, mit den Selbstverständnissen der Mitarbeitenden zu arbeiten, um neue Formen der Realisierung ihres selbst zu finden.