Ich heb ab

Ich heb ab

„Ich heb ab und seh die Welt von oben“ singen Sido und Andreas Bourani in einem populären Popsong. Sie beschreiben die Perspektiven eines Astronauten; seinen Blick auf die Erde mit all ihrem Streit und Elend – aber dann auch mit ihren Schönheiten und der Besinnung auf den ethischen Auftrag, sie zu bewahren. Der Blick auf das Ganze ist der Blick Gottes, der Blick von außen auf unsere Welt, der unsere Verantwortung für sie besonders deutlich machen kann. Immer wieder ist das Bild des blauen Planeten im Kosmos in dieser Hinsicht beschworen worden.

Das Interessante an dem Song ist die positive Konnotation des Abhebens. Es ist gut, dass da jemand abhebt, sich über das Alltägliche erhebt und auf es hinabblickt. Gemeinhin wird Abheben nicht entsprechend positiv gewertet. Meist wird es in kritischer Absicht benutzt, um deutlich zu machen dass sich da jemand aus den praktischen Alltagsbezügen und solidarischen Zusammenhängen herauslöst und meint, etwas Besseres zu sein. Wir abhebt muss sozusagen so schnell wie es irgendwie geht wieder runtergeholt und mit der Realität der Welt in Verbindung gebracht werden. Abgehobene mögen wir nicht. So wenig, wie wir arrogante Menschen mögen. Auch ihnen wird die bewusste, im Grunde genommen feindselige, Abkehr von den anderen und eigene Überheblichkeit zugerechnet.

Aber beides ist falsch. Arroganz bedeutet zunächst einmal die Verteidigung der eigenen Autonomie gegen das vollgequatscht werden durch andere. Es mag sein, dass eine solche Verteidigung nicht immer besonders freundlich daherkommt – aber das ist die Reederei der anderen ja auch nicht immer. Um überhaupt einen klaren Kopf zu behalten muss man sich den Resonanzgeschwirre entziehen. Und ebenso ist es dann auch mit dem Abheben. Es ist tatsächlich nötig, sich zumindest virtuell über eine Situation zu stellen um ihre Widersprüchlichkeiten und Konflikthaftigkeiten überhaupt sehen zu können. Nur dann kann man auch zu ihrer Lösung beitragen. Jeder gute Moderator kennt dieses Phänomen – er oder sie darf deswegen auf keinen Fall ein Teil der Interessenkonstellation sein.

In religiöser Hinsicht gibt es nun eine dies alles noch weit überragende Praxis des Abhebens: die des Aufstiegs zu Gott und der Begegnung mit ihm. In allen Religionen der Welt werden entsprechende Erfahrungen transportiert. Das Christentum ist von Anfang an voll von entsprechenden Praktiken und den Berichten angestrebter oder sogar gelungener Epiphanien. Meistens besteht die Erfahrung in einem Lichtphänomen, einem Blitz oder einem Schlag, mit dem zum Beispiel Augustín sein entsprechendes Erlebnis beschreibt. Dostojewski erlebt etwas, was er nicht beschreiben kann was ihm feststellen lässt: „Ja Gott existiert!“ Es geht um einen Aufstieg zum Licht und darum, die irdischen Dinge hinter sich zu lassen. Oft verbinden sich damit Konversionen, in deren Verlauf weltliche Ambitionen hinter sich gelassen werden und sich die Betroffenen in neuer Weise ganz Gott anheim geben und ein neues Leben in Askese beginnen. Entsprechende Übungen werden meist als sehr anspruchsvoll beschrieben. Wer ohne ausreichende Übung zu Gott aufsteigen wolle können dabei gefährlich abstürzen. Wie kein anderer hat Augustín über seinen entsprechenden Weg berichtet. Bei ihm war es wohl der Kampf gegen eine tiefsitzende Besessenheit von Sexualität, die ihn vom Weg zu Gott abhielt und aus der er nun bewusst und entschieden abhebt. Er fragt Gott in den „Konfessiones“: „Aus welcher verborgenen Tiefe heraus und welche geheimen Höhe herunter wurde er (sein freier Wille) in dem Augenblick heraus gerufen?“

Bei Augustín führt diese Erfahrung zu einem Abheben der besonderen Art, nämlich zur Verachtung des Kreaturlichen, der Sexualität, der er vorher verfallen war. Ausführlich setzte er sich damit in seinen Konfessiones auseinander. Das, was er vorher über alles liebt und von dem er abhängig war, was seinen freien Willen geknechtet hat, ist nun gerade der Verachtung Preis gegeben und wird dann auch entsprechend theologisch einsortiert.

Michelle Foucault berichtet seinen Studien über das frühe Christentum von ähnlichen Erfahrungen, bei denen sich ein Mensch, der die Frauen liebte, zum Christentum bekehrt und deswegen bei der Wiederbegegnung mit seiner Geliebten ihr erklärt, dass er nun ein ganz anderer, ein Fremder sei. Nüchtern betrachtet: Arroganz und Abgehobenheit. Die Welt wird tendenziell zum Abfall – weswegen dann auch im äußerlichen Habitus Entsprechendes stilisiert wird. Der Identitätsgewinn ist enorm – die Praxis ist brutal und nur durch transzendentale Legitimation, durch Gott selbst, zu rechtfertigen. Nur deswegen nehmen die Menschen sie auch überhaupt hin.

Die Reformation hat entsprechende Sehnsüchte delegitimiert und Praktiken der Abgehobenheit abgeschafft. Religiöse Energie sollte nicht mehr in eine religiöse Sonderwelt sondern in den Alltag fließen. Und das ist im großen Ganzen ja auch nur allzu gut gelungen. Nicht mehr von der Welt abzuheben, sondern die Welt zu gestalten ist das, worin das Heil zu finden ist. Darüber ging allerdings die religiöse Überwelt verloren und der Eigennutz zwingt alles unter seine Knute.

Nein: Christen leben durchaus abgehoben in der Welt aber eben nicht von ihr. Sie lassen sich auf sie ein, auf den Moment, die Situation – aber sie sind ihr nicht verfallen. Sie können A sagen – müssen aber nicht B sagen.