Erbsünde
Erbsünde
Der große Augustín soll sie seinerzeit „erfunden“ haben: die Erbsünde, die besagt, dass schon die kleinsten Kinder Sünder und deswegen mit Schuld behaftet seien. Er sei darauf gekommen, so wird erzählt, nachdem er kleinste Kinder beim Kampf um die Brüste ihrer Mutter beobachtet hätte. Gier und Neid seien unter ihnen nicht weniger verbreitet als unter Erwachsenen. Heute wird dieser Lehre fast überall mit Unverständnis begegnet und sie für einen Interesse bezogenen christlichen Fake gehalten. Nichts wäre doch unschuldiger als ein kleines Kind und die romantische Vision einer ungetrübten reinen Kindheit, in der niemand Schuld auf sich laden könnte, ist weit verbreitet.
Auf der anderen Seite wissen wir darum, dass in jedem neuen Wesen das egoistische Gen steckt, jene biologisch chemische Grundprogrammierung, die dafür sorgt, dass auch noch der primitive Einzeller alles unternimmt um das eigene Überleben zu sichern und sich deswegen in unsicheren Umgebungen alles aneignet, was er nur bekommen kann. Und blickt man nüchtern heute auf kleine Kinder, dann könnte man den Beobachtung Augustíns eine ganze Menge hinzufügen. Würde nicht die wohlwollende Erziehung der Eltern und anderer Menschen eingreifen, dann würden die kleinen Menschen wohl tatsächlich zu Egoisten und Diktatoren heranwachsen. Sie tendieren schnell ganz schlicht dazu, alles um sich herum als das Ihrige zu betrachten und müssen in ihre Grenzen erst einsozialisiert werden. Erst der Sozialisierungsprozess, d.h. die schmerzhafte Auseinandersetzung mit anderen, denen man oft ein Leben lang nicht verzeiht, dass es sie überhaupt gibt, macht Menschen menschlich. Nun wird man dies nicht mehr als transzendental begründete Ursünde begreifen, sondern einfach als soziobiologische Vorgegebenheit. Aber macht es das eigentlich besser?
Die ganze Sache findet sodann noch vielfältige Unterstützung in der Soziologie, und zwar immer dann, wenn sie sich mit der sozialen Distanz zwischen Menschen beschäftigt. Der Meister dieses Denkens ist Pierre Bourdieu, der wie kein anderer bis in feinste Einzelheiten hinein aufzeigen kann, wie sich die Identität des Einzelnen dadurch aufbaut, dass er sich zumindest in irgendeiner Weise von anderen unterscheidet um ihnen überlegen sein zu können. Alles, was Menschen die Hand nehmen, alles was sie essen, alles was sie anziehen, wird zu Realsymbolen ihrer Abgrenzung von anderen und damit zu manifesten Zeichen ihrer Eitelkeit mit allen Implikationen von Gier, Neid usw. Da ist dann ein Einsatz wie: „Halbtrocken? Die Hölle!“ noch geradezu harmlos. Und es sind insbesondere die Alltagsgespräche, in denen sich der Killervirus der Überheblichkeit in einem Ausmaß eingenistet hat, der kaum noch zu überbieten ist. Das Ganze ist auch vielfach dadurch gut genießbar, dass die Aggressionen mit Humor vorgebracht werden, aber stets deutlich auf Kosten anderer.
Interessant in diesem Kontext ist auch ein Blick auf die Art und Weise, wie sich Augustín und seine Nachfolger die Weitergabe der Erbsünde dachten: nämlich durch den Geschlechtsakt. Das ist zweifellos unter Heutigen überhaupt nicht mehr einsichtig, da das Geschlechtsleben ausschließlich vom Genuss her konzipiert wird und man auch nicht im Ansatz einzusehen vermag, was darin sündig sein soll. Und diese Sicht ist ja wohl auch richtig. Aber auch das sexuelle Leben hat einen gewaltigen Anteil an der gegenseitigen Abgrenzung der Menschen und damit an der Reproduktion von Klassen und Schichtenverhältnissen. Auch das lässt sich bei Pierre Bourdieu, aber ansonsten auch in allen möglichen Heiratsstatistiken in aller Deutlichkeit nachlesen: sexuelle Anziehung und Paarung geht in eine Eindeutigkeit einher mit den eigenen Zugehörigkeiten zu sozialen Milieus und Gruppen, das einen das total verblüffen kann. Die Liebe ist in dieser Hinsicht überhaupt kein seltsames Spiel, das von einem zum anderen geht, sondern ein völlig eindeutiges Schmiermittel bestimmter sozialer Schichten und Gruppen: die Homogamie. Und wehe denen, die meinen, sie könnten dieses eiserne Gesetz der Paarbildung durchbrechen, auch wenn die prinzipielle Möglichkeit immer wieder vorgegaukelt wird. Sie werden ihr Leben lang damit nicht zufrieden sein, weil sie das gegenseitige Gefallen aneinander, dass durch die habituell bedingte Formung des Geschmacks geprägt wurde, nur unzureichend entwickeln und damit nur unzureichend eine gemeinsame Identität ausbilden können. Die Folge ist, wenn nicht die Trennung, ein unglückliches Bewusstsein.
Gibt es Therapien zu einer so rekonstruierten sozialen Erbsünde? Wahrscheinlich genauso wenig, wie es sie gegen die theologisch gedachte Erbsünde gibt. Man wird dagegen theologisch die Liebe bemühen. Aber das ist nicht die Liebe zwischen zwei Menschen sondern die zwischen den Menschen und Gott.