Die Kultivierung der Sünde
Die Kultivierung der Sünde
Man kann es drehen und wenden wie man will: genau das, was im früheren Christentum als Sünde bezeichnet wurde ist in der modernen bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft zum Dreh und Angelpunkt der Entwicklung geworden und wirkt faktisch als Triebkraft der Gesellschaft – auch wenn es in Sonntagsreden immer wieder verschleiert und euphemisiert wird. Im Zentrum steht das über sich selbst verfügende Individuum, das mit sich selbst und natürlich mit seinem Allerheiligsten, seinem Eigentum, im wesentlichen machen kann was es will. Trotz aller bisweilen anklingenden Gemeinwohlvorbehalte ist es durch das Privatrecht völlig selbstverständlich abgesichert. Hinter ihm sitzt das Individuum, stets bereit seine Interessen und damit sich selbst durchzusetzen. Diese Struktur ist weit mehr als nur ein Organisationsprinzip des Wirtschaftssystems. Es ist der Kern, der die Gesellschaft dynamisiert und sie „lebendig“ hält.
Man könnte nun die Analyse dieses kapitalistischen Kerns noch weiter treiben. Insbesondere kann man in neuerer Zeit sehr schön sehen, wie sich das Interesse weg von realwirtschaftlichen Bezügen und hin zu einem „Management of Desires“ bewegt. Was in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät sind die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen – und es ist weniger die Materialität ihrer Befriedigungsmöglichkeiten. Gehandelt wird mit ihnen und d.h. alle Produkte werden virtuell konstruiert. Sie lassen sich nur verkaufen wenn sie einen Kontext der Fantasie und der Traumwelten stehen. Ein Auto ist längst kein Auto mehr und Coca-Cola keinen Durststiller. Wer so denkt hat die Durchsetzung der Welt der Wirtschaft mit den Imperativen virtueller interessenbezogen Befriedigung noch nicht verstanden. Der Rohstoff der Wirtschaft ist die Fantasie.
In dieser Welt gibt es tatsächlich alternative Fakten; eine Verständigung auf eine gemeinsame Welt ist nicht mehr nötig. Die eigentlichen Tatsachen sind die Erwartungen von Tatsachen – mit Luhmann gesprochen geht es um „Erwartungserwartungen“. Damit hat sich die Wirtschaft von einer irgendwie gearteten realen Welt abstrahiert und konstruiert ihre eigenen Bezüge unter Bezug auf sich selbst. Ökonomie ist das, was in der Ökonomie geschieht. Mit der Bewältigung von Knappheit als solcher hat das ganze längst nichts mehr zu tun. Es geht um permanente Konstruktionen der Fülle – um die Vorgaukelung des Paradieses, in dem alle Wünsche der Menschen erfüllt werden können, bis hin zum ewigen Leben. Natürlich sehen nur wenige Protagonisten das was sie tun realistisch in einem solchen Licht. Viele sind in ihren eher kleinbürgerlich Erwartungshorizonten gefangen.
Christlich theologisch kann nun jedoch die Absolutsetzung des eigenen Interesses nur als Sünde verstanden werden, ganz unabhängig davon, was daraus möglicherweise an Handlungen erwächst. Wo der reine Wille zur Selbstdurchsetzung und Selbsterhaltung unter Verlust der ursprünglichen Gemeinschaftsorientierung dominiert, hat sich der Mensch auf den Thron Gottes gesetzt, dem allein diese Eigenschaften legitimerweise zugeordnet werden können. Und wo dann sogar der Staat im Kern nur noch dafür da ist, Prozesse der Selbstdurchsetzung zu schützen, wie im neoliberalen Staatsverständnis, scheint jede Form des christlichen Bezuges auf den anderen zumindest gesellschaftlich komplett ausgeschaltet zu sein. Es gibt dann nur noch, mit Margaret Thatcher gesagt, Einzelne und ihre Familien, die alles bestimmen – keine Gesellschaft, jedenfalls keine die irgendeinen Eigenwert hätte. Und das scheint in der Tat die Perspektive der westlichen Gesellschaften zu sein – ihr Weg in zu einer reinen Egoorientierung. Nur logisch, dass die Kirche da nicht mehr mithalten kann und verfällt.
Sie kann auch deswegen nicht mehr mithalten, weil das, wovon ihre Botschaft die Menschen befreien will, nämlich die Sünde, angesichts ihrer offensichtlichen Kultivierung nicht mehr verständlich ist. Der alles faktisch rücksichtslos auf sich selbst beziehende Mensch strebt in einer radikalen Weise danach sich selbst zu besitzen, wie dies noch in keiner Gesellschaft vorher der Fall gewesen ist. Seine Selbstverwirklichung ist autistische Selbstdurchsetzung. Und sie steigert sich in diesem gesellschaftseigenen Moralismus in ungeahnte Höhen der Selbsterlösung.
Dabei erlebt der bürgerliche Akteur durchaus vieles als ähnlich widersprüchlich wie es insbesondere bei Paulus als Charakteristikum des Wirkens der Sünde beschrieben wird. Paulus geht es ja insbesondere darum deutlich zu machen, dass das Leben in Sünde durch die Unbeherrschbarkeit der Folgen des eigenen Handelns charakterisiert ist. „Ich tue etwas mit vollster Überzeugung, was ich aber dennoch nicht wirklich will.“ So strebe ich vielleicht tatsächlich danach, das beste Auto der Welt zu bauen, tatsächlich aber vermehre ich das Kapital und trage, ob ich es will oder nicht, dazu bei, dass der Verbrauch von Rohstoffen und die Belastung der Ökosphäre immer weiter wächst. Dieses Phänomen ist als Reboundeffekt bestens bekannt und hart weiterhin einer Auflösung. Kapitalistisch ist der Effekt jedoch nicht aufzulösen, da jeder einzelne seine Einzelinteressen maximieren muss um seinen Platz zu verteidigen. Niemand kann von sich aus darauf freiwillig verzichten um die Welt zu retten. Insofern bleibt es bei der Frage, mit der Paulus seinen Diskurs über die Sünde im Römerbrief beschließt: wer kann uns aus dieser prekären Lage retten?
Man kann an dieser Stelle lange historische Exkurse über den Übergang von einer klassischen christlichen Orientierung zur modernen Legitimation der Untugenden anstellen. Noch im 19. Jahrhundert und auch noch später war unter Christenmenschen klar, dass nicht derjenige Bäcker gutes Brot backt, der damit viel Geld verdient, wie es Adam Smith klassisch behauptet, sondern derjenige der dies, eingebunden in eine Gemeinschaft, für seinen Nächsten tut. Aber natürlich leuchtet völlig ein, dass das Gewinnmotiv viel radikaler das Wirtschaftswachstum antreibt als das Motiv der Nächstliebe. Und irgendwann haben dann die Christen an dieser Stelle vor der schlichten Kraft des Faktischen kapituliert. Sie zogen sich dann auf die Welt der reduzierten Nächstliebe, d.h. der sozialen Dienste zurück. Mittlerweile sind sie aber auch in diesem Bereich mit dem Vordringen der selbstbezogenen Motive massiv konfrontiert und passen sich in an. Dies ist die eigentliche Kerngeschichte der Säkularisierung.