Augustin in der Villa

Augustin in der Villa

Der große Augustin zog sich 386 nach seiner berühmten Bekehrung für ein paar Monate mit einigen wenigen Schülern zu einer Art Philosophenschule in die Nähe des Comer Sees zurück. Die dort geführten intensiven Diskussionen sind seinerzeit stenografiert worden und uns deswegen bis heute zugänglich. Sie bieten einen faszinierenden Einblick in die Entwicklung der augustinischen Theologie vor ihrem entscheidenden Durchbruch. Es geht hier darum, einen Weg zur Visio Dei zu bahnen – und völlig selbstverständlich geschieht dies durch die Schärfung des Intellekts, die Bildung der inneren Welt der Probanten. Der Weg zu Gott kann nur in der Abkehr von der sinnlichen Welt zum einen und von der alltäglichen praktischen Welt zum anderen gefunden werden. Was zugleich auch impliziert, dass die meisten Menschen diesen Weg nicht finden und nicht gehen können. Er bleibt einer intellektuellen Elite vorbehalten, die sich aus der Praxis des Lebens zurückzieht und ihren Geist kultiviert. Gepflegt wird ein „gottgleicher Müßiggang“ wie es heißt. Gott ist Geist und ihm kann nur im Geist begegnet werden: das ist die unausgesprochene aber dann auch ausgesprochene Voraussetzung der ganzen Theologie. Über die Konzipierung mehrerer (sieben) Stufen könne man zu Gott gelangen. Zur spirituellen Welt gilt es durch Übung des eigenen Geistes aufzusteigen, was im Kern Abkehr von sinnlichen Verstrickungen, insbesondere von den Verlockungen der Sexualität – Augustins besonderes Problem – bedeutet.

Die Protagonisten dieses Diskurses koppeln sich damit von der gemeinsamen Welt der Menschen ab; ziehen auf diese Weise Gott aus ihr heraus und reklamieren den Kontakt mit ihm ausschließlich für Welten, die den normalen Menschen nicht zugänglich sind. Sinnfällig wird das ganze unter anderem daran, dass die Probanden während der Tage in der Villa in keiner Weise körperlich arbeiten müssen – nicht auf den Feldern und schon gar nicht im Betrieb des Hauses. Dafür gibt es, wie damals üblich, Sklaven. Ob wohl Augustin jemals darüber nachgedacht hat, welche Form von Gottesbegegnung dieses Sklaven finden könnten? Ob er jemals eine eigene Verantwortung als Theologe ihnen gegenüber gespürt hat? Davon wird nichts berichtet. Dass auch seine Theologie eine spezifische Klassenbasis aufweist und sie in ihrem Habitus reproduziert, reflektiert er selbst nicht. Im dieses vorzuwerfen wäre sicherlich auch Unsinn, denn niemand in dieser Zeit hat in solch einer Richtung Erwägungen angestellt. Und: es gab ja auch für das Volk eine eigene Möglichkeit der Gotteserfahrung, die Augustin anerkennt: das Wunder. Also Gottes direkter Eingriff in die sinnliche Welt. Damals hatte das Wunder sicherlich eine enorme Bedeutung, die weit über das Christentum hinaus ging.

Heute allerdings sind wir verpflichtet uns zu fragen, ob der Zugang zu Gott tatsächlich primär und ausschließlich intellektuell gangbar ist. Natürlich ist das ein völliger Unsinn! In der Geschichte der Religion gibt es unendlich viele Formen popularen Glaubens, denen man kaum eine Validität absprechen kann. Aber noch gravierender ist die altbekannte Tatsache, dass Jesus Christus in den Evangelien nun alles Mögliche ist aber kein bildungsbürgerlicher Intellektueller. Er lebt seine Existenz mit Gott mitten im Leben der Menschen, was sicherlich am schönsten in seinen so leuchtenden Gleichnissen deutlich wird. Die Gleichnisse sind populär, für jeden verständlich – aber sie sind auch Kunstwerke einer ganz eigenen Art, die in einer faszinierenden Weise ihre eigene Wirkung mit sich tragen.

Aufbauend auf einer Hermeneutik der Gleichnisse ist es deswegen immer wieder zu Entwicklung einer praktischen Theologie gekommen, in der mittels der figurativen Methode literarische Figuren bzw. Situationen des Evangeliums mit aktuellen Begebenheiten des heutigen Lebens parallel inszeniert oder sogar identifiziert werden. Das leuchtet beim Barmherzigen Samariter ebenso ein wie beim Verlorenen Sohn oder in einer besonders unbürgerlich drastischen, fast satirischen, Weise beim Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner. Der Kontakt zu Gott kann so auch ohne abstrakte Erwägungen sozusagen im direkten Zugriff im Alltag geschehen, sofern sich die biblische Figur annähernd wiedererkennen lässt. Das Geheimnis dieser Methode ist die Imitatio. Die Fortsetzung der Narration Jesu Christi vollzieht sich über solche Formen der Nachbildung. Sie sind extrem sinnlich und bleiben in den Alltag unmittelbar plausibel eingebettet. Das gilt im Prinzip bis heute, denn noch immer leuchtet die Identifikation Jesu im Gleichnis vom Großen Weltgericht mit dem Geringsten seiner Brüder ein, weil sie zu unmittelbarer Identifikation im heutigen Weltgeschehen führt. Anders gesagt: diese figurativen Methode führt zu Betroffenheit und erzeugt so Plausibilität, der man sich zunächst einmal überhaupt nicht entziehen kann.

Basierend auf solchen narrativ – imitativen Zugängen kann sich eine praktische Theologie der religiösen Alltagskommunikation mit Gott entwickeln. So etwas hat es in der Geschichte des Christentums immer wieder gegeben – und sicherlich auch Kritik an den isolierten intellektuellen Formen, die von ihrer Abgrenzung zum Volk lebten. Das entscheidende hier ist, dass die Brücke vom Glauben zur praktischen Vernunft geschlagen werden kann: der Glaube zieht unmittelbar in Formen der Lebensbewältigung ein und kann sie gestalten. Glaube realisiert sich auf diese Weise als körperliche Übung. Die Begegnung mit Gott räumt den Alltag auf.