Freilaufende Pfarrerinnen?

Freilaufende Pfarrerinnen?

Lassen Sie mich mit einer eher persönlichen Bemerkung beginnen. Als ich 1973 mit dem Studium der evangelischen Theologie in Göttingen begann hatten die evangelischen Kirchen in Ost- und Westdeutschland zusammen geschätzt etwa 32 Millionen Mitglieder. In 2019, als ich aus dem aktiven Dienst als Pastor ausschied, waren es nur noch 21 Millionen. Mithin ein Verlust von einem Drittel der Mitglieder in knapp 50 Jahren – in dem Zeitraum in dem ich für meine Kirche gearbeitet habe. Mir gibt das zu denken. Wie ist dieser Mitgliederverlust in diesem Zeitraum zustande gekommen? Dazu gibt es viele Analysen. Aber mich beschäftigt eine auch sehr persönliche Frage: Inwieweit bin ich mit meiner Arbeit als Pastor auf den verschiedensten Ebenen meiner Kirche „schuldig“ oder zumindest „mitverantwortlich“ für diesem Niedergang? Und nicht nur ich: meine ganze Generation ist betroffen. Was haben wir falsch gemacht, dass es zu einem solch massiven Rückgang an Mitgliedern gekommen ist? Keine Generation vorher hat solch einen Abbruch erlebt.
Man kann diese Frage banalisieren und bagatellisieren: Nein, meine Generation trägt daran keine Mitschuld, es sind die großen gesellschaftlichen Trends, gegen die niemand etwas ausrichten konnte. Und überhaupt: Schuld – was soll das sein? Aber mich überzeugt diese Antwort nicht. Anderswo auf diesem Erdball ist es anders verlaufen. Und der nüchterne Rückblick auf die vergangenen fast 50 Jahren lässt schon eine ganze Reihe von recht konkreten Fragen hochkommen, zu denen nicht zuletzt die schlichte aber gravierende Frage danach gehört, ob uns die Mitglieder der Kirche denn wirklich ernsthaft interessiert haben. In jedem dieser fast 50 Jahre kam es zu enormen Kirchenaustrittszahlen. Aber hat uns das wirklich bewegt? Habe ich wenigstens bei einigen wenigen Leuten den Kirchenaustritt verhindert und einige andere zum Kircheneintritt bewegt? Ich vermute, dass die Bilanz wenig zum Positiven ausschlagen würde – denn bewusst habe ich in Hinsicht Mitglieder wenig unternommen. Es standen Aufträge, Aufgaben, Projekte, Aktionen im Vordergrund – aber die Mitglieder?
Und es sind ja nicht nur die Kirchenaustritte als solche – es ist vielmehr ein gesamtgesellschaftlicher Plausibilitätshintergrund, der sich in diesen 50 Jahren grundlegend geändert hat und aus dem eine gelebte religiöse Kommunikation aber auch grundlegende christliche Wertorientierungen immer weiter verschwunden sind – zumindest was Mitteleuropa anbetrifft. Am deutlichsten ist dies zuletzt in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid geworden, in dem das Autonomiepostulat des einzelnen Menschen ungeahnte Bedeutung erreicht hat. Auch noch der allerletzte Gedanke daran, dass Menschen letztlich nicht sich selbst gehören sondern ein Geschenk Gottes sind, scheint verschwunden und von niemandem mehr nachvollziehbar zu sein. Von daher ist es nur konsequent, wie es ja auch die ganz weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung sieht, dass ein jeder Mensch das Recht auf einen eigenen Suizid hat, oder anders gesagt das Recht darauf, mit sich selbst machen zu können was er oder sie will. Damit kommt eine jahrhundertealte Entwicklung an ihr Ende. Gustav Seibt schreibt zu Recht in der SZ: „Dass dieser komplexe, ganz auf Autonomie abgestellte Begriff von Freiheit im Kern zutiefst unchristlich ist, das lässt sich nicht leugnen.“ (SZ vom 2.3.20, S. 9: „Die Freiheit zum Suizid“)
Aber auch an dieser Stelle lässt sich kritisch zurückfragen, ob meine Generation einer solchen Entwicklung durch eine immer weitere Preisgabe einer Kritik des Suizids (Klassisch: „Suizid ist Sünde“) nicht den Weg gebahnt hat. Noch vor 50 Jahren wäre solch ein Urteil vollkommen undenkbar gewesen, da der Menschenschutz (auch und gerade der Schutz vor sich selbst) religiös transzendental verankert gewesen wäre. Das ging mit einer Diskriminierung von Selbstmördern einher. Dem wollte man jedoch – zu Recht – immer weniger zustimmen. In der Folge konnte man dann aber den Eindruck haben, dass sich die gesamte ethische Debatte verkehrte und nunmehr der Suizid geradezu als höchste Form der Freiheit des Menschen gefeiert wird. Haben wir in dieser Frage wichtige christliche Grundorientierungen durch eine Angleichung an die vordergründig „emanzipatorischen“ Erwartungen der Menschen preisgegeben? Haben wir keinen Mut mehr gehabt, unseren Glauben davon, dass wir von Gott Gezeugte sind, zu vertreten? Tatsächlich sind solche Vorstellungen uns selbst wohl als immer weniger plausibel erschienen.
Nun soll es im Folgenden natürlich nicht um eine Schulderkundung der jetzt abtretenden Generation – überhaupt nicht um Vergangenheitsbewältigung – gehen. Meine Perspektive ist auf die Zukunft gerichtet: wie kann unsere Kirche, unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen, bewusst und sozusagen mit erhobenem Kopf kleiner werden, ohne zum Loser werden zu müssen? Denn das wird sie mit Sicherheit werden: kleiner – und sie wird in einem gesellschaftlichen Kontext zu Recht kommen müssen, der ihrer religiös christlichen Botschaft immer kleinere Resonanzräume einräumt. Das bedeutet von vornherein, das gesamte kirchliche System fragiler wird. Die Welt der sich immer weiter ausbreitenden „Ich – Gesellschaft“ ist nicht die ihre. In dieser Gesellschaft zersetzt sich Bindungsverhalten auf allen Ebenen, längst nicht nur in Bezug auf die Kirche, sondern ebenso im Bereich der Zivilgesellschaft, der Parteien usw. Die Digitalisierung wird diesen Tendenzen noch einen gehörigen Schub hinzufügen.
Das bedeutet: nüchtern betrachtet wird die Kirche nicht in der Lage sein, gegen sie gerichtete gesellschaftlichen Trends wirklich umkehren zu können. Es ist vielmehr notwendig, sich unter diesen Bedingungen mit Energie daran zu machen, Menschen für die Bindung an die Kirche zu gewinnen und die Plausibilität christlicher Kommunikation wieder zu erhöhen. Schon vor mehr als 50 Jahren war der Begriff dafür eine „missionarische Kirche“ oder etwas abstrakte die Rede von der „missionarischen Struktur“ der Kirche – auch wenn das damals anders als heute gemeint war. Dafür muss sie aufgabengerecht aufgestellt sein und das bedeutet vor allem, sie muss die Frage beantworten, wer denn nun für die dringenden Aufgaben der (missionarischen) Kommunikation nach außen tatsächlich verantwortlich ist. Anders gesagt: wer ist eigentlich in der Kirche für Mitgliedergewinnung und Mitgliederbindung verantwortlich? Wem können diese Aufgaben zugerechnet werden?
Diese Fragen bewegen mich schon lange. Mir mangelt es an dieser Stelle an wirklichen organisatorischen Antworten. Natürlich sind irgendwie alle in der Kirche hierfür verantwortlich – aber wenn alle verantwortlich sind, ist es bekanntlich niemand. Und das scheint mir genau die heutige Situation zu sein: die Kirche leidet an Plausibilitäts- und Mitgliederverlusten – und im Grunde genommen wissen auch alle, was zu tun wäre. Aber die Verantwortung für diese Aufgaben ist strukturell diffus verteilt. Deswegen wird in unserer Kirche zwar ganz viel unternommen – aber wie schon in der Vergangenheit verpufft ungeheuer viel Energie in unproduktive Richtungen. Sie läuft in die Pflege interner Plausibilität und Kommunikation hinein: in Eigenresonanzräume, wie ich vorschlage das Phänomen zu nennen, und versickert auf diese Weise. Man kann das auch systemischen Autismus nennen. Oder auch ganz einfach provozierend: systemische Trägheit.
Besonders schön zeigt sich für mich dieses Phänomen immer wieder in einer Art von Predigten oder auch an spezifischen Reflexionsteilen in religiösen Reden, in denen es um die Reflexion über das Gelingen von Verkündigung heute geht. Gerne wird dann die (oft rhetorische) Frage gestellt, was man denn heute tun könne, um heute Menschen überhaupt noch vom Evangelium zu überzeugen? Wenn ich so etwas höre, dann frage ich mich immer was das denn soll? Statt solche Fragen zu stellen sollte der Prediger doch lieber überzeugend predigen! Aber hier existieren offensichtlich Hemmungen die viel tiefer liegen, als wir uns das manchmal zugestehen. Wir sind tief von einem „Überwältigungsverbot“ geprägt. Was mir zu fehlen scheint, ist eine breite strukturell durchschlagende Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand unserer Kirche, die sich in einem geradezu umfassend nach außen gerichteten Kommunikationsverhalten äußern müsste. Auf Deutsch: wir lassen uns von unserer Zufriedenheit hinreißen. Die Art und Weise wie Kirche heute aufgestellt ist, macht uns träge – systemisch träge.
Diese These möchte ich im Folgenden in einem Dreierschritt belegen. Zunächst geht es im ersten Abschnitt um die Frage, was es denn heute braucht, um unsere Kirche „zu retten“. Dabei ist die Antwort klar: es braucht Kommunikation nach „außen“ in guter Qualität. Im zweiten Abschnitt soll dann der Frage nachgegangen werden, warum es so schwierig ist, genau das zu tun was es braucht. Es liegt an überkommenen Strukturen und deren Folgen für die in sie eingebetteten Personen. Schließlich sollen dann im dritten Abschnitt Erwägungen dazu eingestellt werden, was unter diesen Bedingungen hilfreich sein könnte. Es geht um strukturelle Anreize, das Nötige zu tun also um die Frage nach einer angemessenen „Aufstellung“ der Kirche.
Vorab sei noch einmal deutlich gesagt: Kirche ist gesellschaftlichen Trends ausgesetzt, die sie nicht selbst steuern kann. Gerade deswegen hängt aber alles davon ab, dass sie sich klug „aufstellt“ und ihre Botschaft so kommuniziert, dass sie zumindest prinzipiell in der gegenwärtigen Gesellschaft auf Resonanz stoßen könnte. Ob dies dann tatsächlich geschieht, ist eine empirische Frage, die je nach lokalen und regionalen Bedingungen unterschiedlich beantwortet werden wird. Trotz aller Trends, so meine These, gibt es einen nicht geringen Eigenanteil der Kirche an der Gestaltung ihrer Zukunft. Für den sind wir verantwortlich. Ihn möchte ich herausarbeiten.
Was braucht es heute?
Vielleicht klingt es ja überraschend, aber es ist seit langem sehr deutlich und eigentlich überall bekannt, was es heute braucht, um in der gesellschaftlichen Situation, wie sie nun einmal ist, das für die Kirche Mögliche zu tun und realistische Ziele erreichbar zu machen. Man schaue nur einmal wieder darauf, welche Folgerungen 1997 aus der damaligen dritten EKD Erhebung über Kirchenmitgliedschaft gezogen worden sind. Dort heißt es völlig richtig: „die Kirche hat, wie die Erhebung zeigt, dem Übergang von der religiösen Monopolsituation in die pluralistische Konkurrenz bisher nicht hinreichend Rechnung getragen.“ (S. 352) Und weiter: „Unsere Kirchen leben weithin aus dem Herkommen und den sich abschwächenden Traditionsbindungen und Konventionen. Sie müssten dagegen ihre Organisation darauf ausrichten, aktiv, initiativ, quasi „unternehmerisch“ um Akzeptanz, Förderung und Mitgliedertreue zu werben.“ (S. 353) Und noch deutlicher: „Die Kirche müsse sich am Leitbild einer Organisation orientieren, die um Mitglieder wirbt, indem sie ihnen die Botschaft des Evangeliums einleuchtend macht, und damit für ihr Leben ein unverwechselbares und unschlagbar attraktives Angebot unterbreitet.“ (dto). Entscheidend für die Erfüllung dieser Aufgaben ist eine beträchtlich verbesserte Kommunikation mit den Mitgliedern. Dem ist nach wie vor überhaupt nichts hinzuzufügen.
Mittlerweile sind diese Sätze fast 25 Jahre alt – in dieser Zeit sind fast 5 Millionen weitere Kirchmitglieder ausgetreten. Der Anteil der Konfessionslosen in Deutschland erreicht 2017 45,6 %. Aber auch in dieser Situation ist heute vollkommen klar, was getan werden muss. So hat die EKD erst vor kurzem (2020) eine umfangreiche Studie zum Thema Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit vorgelegt. Darin werden zehn Handlungsoptionen entwickelt, die es angesichts wachsender Konfessionslosigkeit aufzugreifen gilt. Eigentlich sind dies alles Selbstverständlichkeiten einer sich selbst ernst nehmenden Kirche. So heißt es z.B. „Religiöse Sozialisation und Erziehung unterstützen“; „Religionsbezogene Bildung für konfessionslosen Menschen etablieren“; „Fragen der Lebens- und Weltdeutung konfessionsloser Menschen identifizieren und theologisch bearbeiten“; „Den Reichtum der Frömmigkeit und die Deutepotenziale christlicher Religion entdecken“; „Um die Auslegung der Wirklichkeit streiten“; „Erprobungsräume für das Christsein als Lebensform profilieren und stärken“; „Über Kirche aufklären und um Unterstützung sowie Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit werben“. Zusammengefasst: „Konkret sind es zehn Wege, dies zu gehen gilt, um der Begegnung und Auseinandersetzung mit Konfessionslosigkeit besser als bislang Raum geben zu können. …. Sie alle werden schon genutzt, allerdings alles in allem zu wenig systematisch und zu selten dezidiert im Blick auf Menschen, die ihr Leben ohne Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft führen und deuten“.
Das ist alles ohne Frage richtig: wer würde diesen Forderungen nicht zustimmen? Weg von der Orientierung unserer kirchlichen Arbeit an der zehnprozentigen Restgemeinde hin zur Orientierung nicht nur an den 90 % der Kirchenmitglieder, die wir sonst nicht so gut erreichen (mindestens an den etwa 40 % Sympathisanten, die es unter den Kirchenmitgliedern gibt) und dann weit darüber hinaus an all den Vielen längst mit Kirche nichts mehr zu tun haben und ihr und ihrer Botschaft indifferent oder sogar feindlich gegenüber stehen. Logisch! Genau das braucht es. Und in welcher Kirche der Welt, wenn nicht in der unsrigen, gebe es dafür nicht auch genügend Ressourcen? Lasst uns offensiv bei jeder Gelegenheit über die Auslegung der Wirklichkeit streiten! Endlich!
Also: es braucht Kommunikation in alle Richtungen, weit mehr als bisher in die Bereiche der Gesellschaft, die mit uns nichts mehr zu tun haben wollen. Dabei geht es nicht um irgendwelche Umfragen, deren Ergebnisse man dann aufgreifen könnte, sondern es geht darum, die Erfahrungen der Menschen, insbesondere die Erfahrungen der Kirchmitglieder aktiv aufzugreifen und mit religiöser Kommunikation bzw. der Botschaft des Evangeliums zu verknüpfen. Nun gibt es aber ernsthaft nicht wenige Personen, die sagen, dass das gar nicht mehr ginge. Aber dem kann man tatsächlich mit vielerlei Beispielen religionsbezogener Kommunikation in der öffentlichen Kultur, nicht zuletzt im Bereich deutscher Popmusik, gegen halten. Zentral ist, dass die Menschen merken, dass die Kirche an ihnen interessiert ist, ja die Menschen braucht um ihren Auftrag zu erfüllen; etwas von und mit ihnen will und sie ernst nimmt. Es muss deutlich werden, dass die Kirche – zumindest auch – eine Mitgliederorganisation ist, wie andere Organisationen der Gesellschaft auch.
Das kann man nun sehr gut so sagen, aber man merkt dann sofort, dass das Pathos dieser Rede in keiner Weise mit der Realität der kirchlichen Arbeit übereinstimmt. Natürlich gibt es viele gute Beispiele positiver Mitgliederbezogenheit und sie haben sich möglichweise ja auch in den letzten Jahren vermehrt. Aber dass strukturell die evangelische Kirche als eine mitgliederfreundliche – oder gar konfessionslosenfreundliche – Organisation auftreten würde wird man bei aller Liebe nicht behaupten können. Woran liegt das? Der Grund ist so offensichtlich wie banal: wer auch immer in der Kirche sich in dieser aktiv nach außen offenen Weise engagieren will, der oder die braucht etwas, was nur begrenzt vorhanden ist, nämlich zusätzliche Energie. Die Kommunikation mit den nicht so aktiven Kirchenmitgliedern oder dann gar mit den vielen Konfessionslosen ist sehr viel aufwendiger, voraussetzungsvoller, anstrengender und herausfordernder als dies die Pflege der immer noch der Kirche Verbundenen oder gar die Kommunikation in den hauptamtlichen Mitarbeiterkreisen ist. Insofern ist es tatsächlich immer auch ein Stück Selbsttäuschung, wenn in kirchlichen Papieren entsprechende Kommunikationsanforderungen formuliert werden, wie zuletzt dem zitierten Papier über Konfessionslosigkeit, ohne zu klären, wer das denn nun tun soll. Fragen, ob sich jemand in dieser Richtung einsetzt oder nicht, können nicht nur einzelnen überlassen bleiben sondern müssen strukturell angegangen werden. Es braucht, um diesen Gedanken jetzt zum ersten Mal zu wiederholen, klare Verantwortlichkeiten für Mitgliederbindung oder gar Kommunikation mit Konfessionslosen. Und wenn dazu in Papieren nichts gesagt wird, kann man diese Papiere eigentlich auch gleich wieder in die Tonne treten.
Die Rede von der zusätzlichen Energie für entsprechende Aktivitäten klingt banal. Aber sie ist es ganz und gar nicht und sie ist es auch deswegen in besonderer Weisenicht, wenn man die spezifischen Arbeitsbedingungen in der Kirche in den Blick nimmt. Wir habe es ja einfach mit sehr vielen organisatorisch nur schwach einbindbaren Arbeitsplätzen zu tun, bei denen fast alles vor allem von der Selbststeuerung der Betreffenden abhängt. Anders gesagt: was nicht durch motivierte Einzelne geleistet wird kann organisatorisch an irgendeiner anderer Stelle nicht wieder aufgefangen werden. Wenn die zusätzliche Energie fehlt, noch diesen oder jenen Besuch zu machen, wird das durch nichts ausgeglichen.
Dazu ein Beispiel aus meiner eigenen Pastorentätigkeit – also nun doch noch einmal ein Rückblick auf die Erfahrungen meiner jetzt abtretenden Generation. Als ich in den achtziger Jahren als Gemeindepastor vor allem in Celle tätig war, war es üblich, dass wir Pastoren jede Woche Mitteilungen von den beiden Celleschen Krankenhäusern bekamen, wer aus unseren Pfarrbezirken dort gerade behandelt wurde. In der Regel haben wir dann alle Betreffenden auch besucht – jedenfalls soweit das jeweils möglich war. Dabei machte man eine zentrale Erfahrung: besuchte man ältere Gemeindemitglieder so war dies in der Regel ein schönes Erlebnis. Die Betreffenden freuten sich, dass der Pastor vorbei kam und er erhielt Anerkennung und Wertschätzung dafür ausgesprochen. Später traf man sich dann auch häufig in der Gemeinde wieder. Völlig anders war es jedoch bei jüngeren Gemeindemitgliedern die wegen eines Ski- oder Arbeitsunfalls im Krankenhaus lagen, in der Regel den Pastor vorher nicht kannten und auch keinen engeren Bezug zur Kirchengemeinde hatten. Das ging dann im besten Fall noch mit Hohn und Spott einher: „Was wollen Sie denn hier, ich bin doch noch nicht tot?“ Oft aber auch mit Unverständnis und auf jeden Fall mit erheblichen Kommunikationsproblemen. Anders gesagt: die Energie die man aufwenden musste, um auch in diesen Fällen eine befriedigende Besuchssituation herzustellen – bis hin zur Nerverei – war beträchtlich höher als bei den älteren Gemeindemitgliedern. Aber eigentlich natürlich – im Blick auf Mitgliederbindung – durchaus sehr viel besser investiert als bei den älteren Gemeindemitgliedern.
Was war die Folge dieser Situation? Sie können es sich denken: über kurz oder lang unterblieben die Besuche bei den Jüngeren und es fanden nur noch Besuche bei den Älteren statt. Das konnte man dann auch gut seelsorgerlich vor sich selbst damit rechtfertigen, dass die Jüngeren pastoralen Zuspruch nicht so nötig hätten wie die Älteren. Aber das war ganz offensichtlich eine nachträgliche Legitimation dafür, hier keine zusätzliche Energie mehr aufzuwenden. Man kann das auch schlicht Trägheit nennen. In der damaligen pastoralen Situation war das völlig plausibel – im Blick auf die Situation der Kirche insgesamt aber fatal. Gerade diejenigen, die von der Kirche wegdrifteten, lies man allein. Ich habe von dieser Erfahrung her meine damalige eigene Arbeit mehrfach weitergehend dahingehend analysiert, mit welchen Gruppen ich am meisten Kontakt hielte und kam so auf gut 80-85 % meiner Arbeit für Kommunikation mit Menschen über 70 Jahren. Auch das etwas, was möglicherweise bis heute so ist und weiterhin fatal bleibt. Aber, wie gesagt, Kommunikation mit Älteren war und bleibt am einfachsten und führt am leichtesten zu Erfolgserlebnissen. Dass das so ist, kann kein Vorwurf gegenüber Einzelnen sein. Die personale Trägheit, die hier deutlich wird, ist eine systemische. Wir führten damals übrigens als „Ausweg“ in meiner Celler Gemeinde Geburtstagsbesuche zum 40. Geburtstag ein. Wie man sich denken kann, zeigte sich dabei genau die gleiche Struktur: solche Besuche waren durchaus möglich, auch wenn sie überraschend daher kamen. Aber auch sie brauchten zusätzliches Training, zusätzliche Motivation und damit eben einen zusätzlichen Energieaufwand, um sie dauerhaft seitens der Gemeinde betreiben zu können.
Schon damals stellte sich mir angesichts dieser Situation immer wieder die weitergehende Frage, welche Anreize gegeben sein müssten, damit entsprechende kommunikative Außenkontakte, die mit einem hohen Frustrationsanteil einhergehen, dauerhaft erfolgen könnten. Denn eins ist ja auch klar: vorübergehende Aktivitäten in dieser Hinsicht bringen nichts. Es muss sich schon um beständige, immer wiederkehrende Aktivitäten handeln, in denen regelmäßig zumindest ein Dreierschritt wenn nicht sogar ein Viererschritt gegangen werden muss (vorausgesetzt, dass es überhaupt möglich ist Kontakte zu Menschen zu pflegen, die an der Kirche nur wenig oder gar kein Interesse haben):
Zunächst einmal das schlichte Wahrnehmen seiner selbst in solchen Kontakten. Was gelingt warum? Was gelingt nicht? Wie gut kann ich mich selbst auf die anderen einstellen? Hier kann man viel trainieren. Gibt es solche Trainingsangebote?
Dann natürlich die Anerkennung der Interessen und Erfahrungen der anderen, mit denen ich zu tun habe. Was treibt die Menschen um? Was ist Ihnen wichtig – ganz unabhängig von christlicher Bewertung. Achtsame Kommunikation ist gefragt.
Schließlich die Aufnahme der Interessen und Erfahrungen der anderen – ihre gezielte Verarbeitung in die Gemeindearbeit oder deutlicher noch in die Artikulation des christlichen Glaubens, sprich in die vielfältigen Formen der Verkündigung oder des kirchlichen Lebens allgemein.
Und dann, wenn es gut geht, die Entwicklung von Angeboten aller Art, mit denen die kirchlichen Akteure die anderen ansprechen wollen und zwar am besten in Form von Überraschungen. Nicht geht es um eine 1:1 Abbildung der Interessen der anderen in kirchlicher Kommunikation oder Aktivität: das wäre nur ein plattes Ködern, womit man auf Dauer nicht landen kann.
Worum es allgemein gesagt geht, ist folglich die Wahrnehmung und Verarbeitung der aktuellen heutigen menschlichen Situation in christliche Verkündigung und gemeindliche Aktivität hinein. Nicht um eine Angleichung an die Erwartungen der Menschen kann es gehen – mit simplen Umfragen, wie wir das früher gemacht haben: Was erwarten Sie denn von der Kirche? ist es auf keinen Fall getan. Und es geht auch nicht um das Warten auf irgendwelche besonderen Situationen, in denen sich die Menschen öffnen würden. Was gebraucht wird, ist im Kern nichts anderes als die Förderung religiöser Autorschaften – die Arbeit an und mit christlichem Glauben und christlicher Religion im Angesicht der Menschen, wie sie heute nun einmal sind. Auch das erfordert zusätzliche Energie und Motivation. Aber wir werden sicherlich alle darin einig sein, dass genau dies die Kernkompetenz von Pastorinnen und Pastoren beschreibt. Hierfür brauchen Sie Zeit und Gelegenheiten um ihre höchsteigene religiöse Autorschaft immer weiter verbessern zu können. Dies hat auch mit dem zu tun, was ich als Eigenresonanz beschrieben habe: religiöse Autorschaft kann sich nur dann entwickeln wenn in ihr mein Ich zum Tragen kommen kann. Sie kann sich auch nur dann entwickeln wenn es ihm nicht bei meinem Ich bleibt, sondern sich dieses Ich durch die Interessen und Erwartungen der anderen herausgefordert erlebt. Ja, ich würde sagen, wenn ich durch die anderen „verletzt“ werde. D.h., wenn mich die Lebenseinstellung eines anderen so traurig macht, dass ich ihn vor den Konsequenzen seiner eigenen Haltung bewahren möchte. Dann könnten produktive neue religiöse Perspektiven entstehen, aus denen sich Neuzugänge zu den anderen ergeben. Die pastorale Eigenresonanz müsste folglich fragil bleiben – offen für Formen der Fremdresonanz, gerade von solcher, die ich vielleicht zutiefst ablehne. So etwas hätte dann auch politische Bedeutung z.B. im Blick auf Ängste und Sorgen, die Menschen angesichts von Migranten und Flüchtlingen artikulieren.
Ich möchte nun diese Überlegungen zu dem was getan werden muss mit einem interessanten Vorschlag für eine institutionalisierte Begegnung zwischen Pastorinnen und Pastoren und Kirchenmitgliedern abschließen. Der Vorschlag stammt von Bernhard Schlink, einem Berliner katholischen Juristen, den er in der FAZ vom 16. Januar 2020 gemacht hat, der aber in der Substanz auch schon älteren Datums ist. Seine Idee ist, dass Kirchenaustritte und Kircheneintritte in Zukunft nicht mehr beim Standesamt sondern im Pfarramt erfolgen sollten. Ihm ist auch klar, dass eine solche Umstellung erhebliche rechtliche Voraussetzung impliziert, die er auch ausführlich diskutiert. Aber nicht darauf will ich hier eingehen sondern darauf, wie er im Blick auf unsere hier angesprochene Diskussionslage seinen Vorschlag begründet. So heißt es bei ihm: „Die Umstellung der Erklärung des Kirchenaustritts vom Standesamt oder Amtsgericht aufs Pfarramt wird die Zahl der Kirchenaustritte nicht wesentlich verringern. Aber sie macht aus dem Pfarrer als hilflosen Beobachter von Austritt um Austritt einen Handelnden, einen Beteiligten. Der Pfarrer wird mehr über die Ursachen der Kirchenaustritte erfahren, mehr über seine Gemeinde, mehr über die Menschen, die zur Gemeinde gehören, aber nicht am Leben der Gemeinde teilnehmen. Er wird manchmal erleben, dass das Gespräch zwischen ihm und dem Mitglied, das nie gelang, jetzt doch noch gelingt, und vielleicht sogar, dass es sich ein Mitglied nach dem Gespräch anders überlegt. Umgekehrt wird der Austrittswillige ein bisschen von dem erleben, was Kirche ausmacht: Aufmerksamkeit, Zugewandtheit, Gesprächsbereitschaft. Wenn er danach der Kirche, aus der gleichwohl austritt, immerhin ein anderes Gedächtnis bewahrt – ist das nichts?“ So Bernhard Schlink.
Wie gesagt: ob dieser Vorschlag juristisch realisierbar ist, ist völlig offen. Aber was Schlink hier anspricht trifft genau den Kern des Problems, dass wir hier diskutieren. Er schreibt der Kirche positive kommunikative Attribute zu: Aufmerksamkeit, Zugewandtheit, Gesprächsbereitschaft. So soll es sein – solch ein Image hätten wir gerne. Aber das müssen die Menschen, die Mitglieder und eben auch die Konfessionslosen auch tatsächlich erfahren können. Dann könnten sich neue produktive religiöse Autorschaften ergeben, und vielleicht auch noch weitere ganz andere Formen von Mitgliedschaft oder schlichter Sympathie für die Kirche einstellen. Garantien dafür gibt es mit Sicherheit nicht. Auch solche Gespräche können formal, kalt und kurz bleiben. Aber immerhin: den Versuch wäre es wert!
Aber eben: auch dies, die institutionelle Möglichkeit, den Ein- und Austritt im Pfarramt vollziehen zu können, bedeutet für die Pastorinnen und Pastoren einen möglicherweise erheblichen Mehraufwand an Arbeit. Und zwar gerade dann, wenn es wirklich zu guten Gesprächen käme. Ich denke, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen der Arbeitsbelastung so etwas rein von daher eher auf Ablehnung stoßen würde. Dennoch: wer für sich Arbeit in diese Richtung ablehnt, der muss andere Antworten darauf finden, wie eine offensive Kommunikation mit Mitgliedern und Nichtmitgliedern in Zukunft institutionell geregelt und gefördert werden soll. Ohne dass wird es nicht gehen. Wer soll dafür verantwortlich sein? Wer trainiert so etwas? Oder auch: Wer will das überhaupt? Ich schätze, nur eine Minderheit.
Warum ist es so schwierig?
Wenn offensichtlich allen Beteiligten klar ist, was eigentlich getan werden müsste, und dies auch schon lange so ist, dann stellt sich natürlich die Frage, warum von diesen Notwendigkeiten bisher offenkundig so wenig realisiert worden ist. Dazu ist eben auch schon eine ganze Menge eher personenbezogen ausgeführt worden. Systemisch braucht es Anreize um den notwendigen zusätzlichen Energieaufwand, der für eine offensive Außenkommunikation nötig ist, aufbringen zu können. Das gilt weniger für den oder die Einzelne, die auch unter den gegenwärtigen Bedingungen schon in dieser Richtung tätig werden kann und ja auch in vielfacher Hinsicht tätig wird. Aber das ist eben auch genau das Problem: es hängt unter den gegenwärtigen Bedingungen an der einzelnen Person insbesondere des Pfarrers oder der Pfarrerin. Da gibt es durchaus charismatische Gestalten, die eine Menge bewegen. Ein Glück! Sie müssen mehr als bisher gefördert werden. Aber das alleine kann es nicht sein: es geht um Strukturen, die entsprechende Anreize bereitstellen. Diese Frage ist überhaupt nicht banal, denn – und das ist die entscheidende Erfahrung zumindest meiner Generation – der „Laden“ Kirche läuft ja auch so weiter; ohne dass ich mich selbst besonders anstrenge und neue Wege beschreite. Ja, man kann sogar den frustrierenden Eindruck haben, sowie die Kirchen heute nun mal funktioniert, dass sie besser weiterläuft, wenn ich mich selbst nicht so stark für Neuerungen einsetze. Dann funktioniert wenigstens die Verwaltung ungestört – und das, so mein Eindruck, immer enger und kontrollierender. Charismatiker aber brauchen Freiräume.
Wenn man auf diese Weise über Anreize nachdenkt, die in der Kirche gegeben sein müssen, um das Verharren in Eigenresonanz zu überschreiten, wird man sofort auf klassische Diskussionen und Begriffsbestimmungen darüber verwiesen, wie sich überhaupt Handlungsanreize gestalten können. Das sind an erster Stelle natürlich intrinsische Motivationen zu nennen – das, was pastorales Handeln klassisch zuvörderst anreizen soll. Dazu lässt sich viel sagen, aber abgekürzt geht es dabei doch wohl darum, dass die Kernmotivation dafür, gute pastorale Leistung zu erbringen in der Überzeugung besteht, dass es nicht nur gut sondern schlicht notwendig ist, Menschen vom Glauben an Gott, vom Evangelium zu überzeugen. Um dies zu tun hat man seinen Beruf als Pfarrerin oder Pfarrer gewählt und sieht darin seine Aufgabe. Das würde sicherlich in der Allgemeinheit auch heute noch jede und jeder von uns unterschreiben. Schwieriger wird es an der Stelle um die es hier geht: nämlich im Blick auf die Notwendigkeit, Mitglied der Kirche zu sein. Parallel zum Verfall der sozialen Nötigung, Kirchenmitglied zu sein und auch der Plausibilität religiöse Kommunikation in den letzten Jahren ist es hier offensichtlich zu einem auch unter Theologen verbreiteten Vordringen von institutioneller Indifferenz gekommen. Dass es wirklich nötig ist, lebens- und heilsnotwendig, Mitglied der Kirche zu sein, hört man heute – zumindest evangelisch – nicht mehr. Dass an dieser Stelle sogar die klassische Differenz von Christen und Heiden festgemacht werden könnte – sofern man sie überhaupt noch für wichtig hält – ist völlig unwahrscheinlich geworden. Damit aber ist eine intrinsische Motivation, aktiv Mitgliederbindung voranzubringen zumindest angeknabbert wenn nicht längst ausgefallen. In unserer Haltung machen wir deutlich, dass es letztlich nicht wichtig ist, Mitglied der Kirche zu sein. Oder etwa nicht? Auf jeden Fall muss hierüber dringend offen diskutiert werden.
Fragt man nun nach weiteren Motivationsformen so legt sich natürlich das nahe, was klassisch als extrinsische Motivation bezeichnet wird: Leistungsanreize, die aus mehr Geld, mehr Ruhm und Ehre, aus Aufstiegsmöglichkeiten und ähnlichen Belohnungen verschiedenster äußerlicher Art bestehen. Dies alles hat natürlich auch in der kirchlichen Arbeit eine Bedeutung, auch wenn es in unseren Diskussionen immer wieder vernachlässigt wird. Offen ist allerdings in wieweit solche Anreize für Mitgliederbindungsaktivitäten interessant sein könnten. Bisher wird damit offen nicht operiert. Gehaltszuschläge für diejenigen, denen es gelingt die Zahl der Kirchenaustritte zu reduzieren oder gar die der Eintritte zu maximieren stehen nirgends auf der Agenda. Dass jemand Bischof wird, weil er oder sie 100 neue Kirchenmitglieder gewonnen hat, habe ich auch noch nicht gehört. Auf der anderen Seite sind die Gehälter der mittleren kirchlichen Führungsebene deutlich erhöht worden, was doch wohl mit Anreizen zu tun hat, diese Leitungsaufgaben zu übernehmen. Generell scheint es mir auch unabhängig von Gehaltsdifferenzen so zu sein das Belohnungen durchaus aus Stellenwechseln bestehen können. Dabei ist es wohl so, dass der Wechsel auf eine übergemeindliche Stelle, also aus der unmittelbaren Konfrontation mit der Mitgliederproblematik in den Kirchengemeinden heraus, ausgesprochen positiv erlebt wird. In der hier angefragten Richtung ist dies aber doch wohl eher eine Fehlentwicklung, es sei denn, dass die übergemeindlichen Dienste tatsächlich näher an den Menschen operieren würden als dies in den Kirchengemeinden passiert.
Zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation bzw. Handlungsanreizen gibt es nun noch einen dritten Bereich, den man als organisationale Zielsteuerung bezeichnen kann. Damit ist eine Form der Steuerung des Handels der Beschäftigten durch Vorgesetzte beschrieben, die sich seit vielen Jahren überall in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst findet. Man vereinbart Zielsetzungen, die während eines bestimmten Zeitraums erreicht werden sollen und überprüft die Ergebnisse dann in einem gemeinsamen Jahresgespräch. Der Vorteil dieses Verfahrens ist offensichtlich, dass die jeweiligen Vorgesetzten sich einer direkten Anweisung enthalten können und zugleich die Ausführenden die Erreichung der Ziele in ihre eigene Selbststeuerung, also intrinsisch, integrieren. Wird aber in der Wirtschaft das Erreichen von Zielen dann in der Regel auch mit extrinsischen Anreizen bzw. umgekehrt bei Nichterreichen mit Sanktionen gekoppelt ist, so fallen diese Möglichkeiten bei der Kirche aus. Entsprechend hat sich nach allem, was mir zumindest bekannt ist, das Jahresgespräch zwischen Vorgesetzten und Ausführenden von einem konsequent die Erreichung von Zielsetzungen evaluierenden zu einem Gespräch hin entwickelt, in dem es vor allem um gegenseitige Wertschätzung und Anerkennung geht. Während zu Beginn der Einführung dieser Gespräche Pastorinnen und Pastoren deswegen auch skeptisch bis ablehnend waren, finden diese Gespräche mittlerweile große Zustimmung. Einmal im Jahr, so karikiere ich jetzt, versichert man sich, sich gegenseitig bestätigend, dass doch im Grunde genommen alles in Ordnung ist auch wenn vieles nicht klappt. Hier hat das Prinzip der Eigenresonanz schnell Übergewicht über eine Außenorientierung gewonnen. Die systemische Trägheit gewinnt.
Blickt man folglich auf diese drei Ebenen einer Anreizgestaltung in der Kirche so bleibt für eine systemisch – konsequente außenorientierte Kommunikationsorientierung nicht viel Spielraum. Natürlich wird sie auch nicht behindert: wer sich konsequent auf dieser Ebene bewegen will, der kann das tun und wird dafür durchaus auch Anerkennung finden. Aber wer es konsequent nicht tun will wird daran eben auch nicht gehindert. Einen wirklichen strukturellen Zusammenhang zwischen Formen der aktiven Mitgliedergewinnung und -bindung oder schlicht einer aktiven Kommunikation mit Konfessionslosen und der eigenen Befindlichkeit in der Organisation kann ich nicht erkennen. Ob sich einer darum kümmert oder nicht ist der gesamten Organisation strukturell gleichgültig. In dieser Hinsicht sind wir, um dies an dieser Stelle ganz deutlich zu sagen, keine missionarische Organisation. Im Zweifel gilt die Pflege der Eigenresonanz. Sie hat Vorrang vor der Aufnahme von fremdresonanten Interessen und Erfahrungen.
Woran liegt das? Die „Schuld“ liegt ganz gewiss nicht bei den einzelnen kirchlichen Akteuren – jedenfalls nicht bei ihnen als Einzelne – sondern sie hängt mit dem Charakter der Organisation bzw. Institution Kirche insgesamt zusammen. Um es abgekürzt gleich auf den Punkt zu bringen: die Kirche ist als Kirche im Kern als eine zutiefst eigeneresonante Sozialgestalt verfasst. Ihr Zweck ist nicht nur nicht die Befriedigung von Mitgliederinteressen; sie ist im Kern überhaupt keine Mitgliederorganisation, sondern sie dient einem letztlich transzendent definierten Zweck: der Verkündigung des Evangeliums und der Spendung der Sakramente. Es klingt ja etwas albern, aber dort wo dieser Auftrag der Kirche gerade auch im Kontext der Reformation immer wieder neu definiert worden ist, ist an keiner Stelle von Mitgliedern die Rede. Das ist in der mittelalterlichen Aufstellung der Kirche natürlich auch nicht zu erwarten, denn alle mittelalterlichen Sozialgebilde funktionieren stets als alle inkludierende Körperschaften (abgesehen von den „Sekten“, den innovativsten Formen von Kirche) bzw. in der neueren Fassung des Begriffs als Anstalten. Als solche umfassen sie einen großen Teil oder in der Regel die gesamte Bevölkerung im Hinblick auf die Erbringung spezifischer Funktionen bzw. Leistungen. An eine dezidierte Ausrichtung dieser Leistung an den Interessen der Inkludierten oder gar an ihre aktive Mitwirkung zur Erbringung dieser Leistungen ist zunächst einmal überhaupt nicht gedacht. Noch heute bildet sich diese Struktur in den klassischen Anstalten, wie den Landesversicherungsanstalten oder auch der alten Bundesanstalt für Arbeit (heute euphemistisch „Agentur“ für Arbeit genannt) ab. Als solche dienen sie der Erfüllung bestimmter gesellschaftlich notwendiger Aufgaben, die nicht der Zustimmung der Einzelnen bedürfen. Mithin „herrschen“ sie über ihre Mitglieder, verwalten sie.
Nun ist es natürlich keine Frage, dass unsere heutigen evangelischen Kirchen in Deutschland in diesem drastischen Sinne nicht mehr als Anstalten funktionieren und dies in vielerlei Hinsicht schon spätestens seit dem bürgerlichen Aufbruch im 19 Jahrhundert nicht mehr. Seitdem sind Kirchengemeinden als mehr als nur Parochien sondern zumindest auch sich selbst verwaltende religiöse Gemeinschaften mit eigenen Kirchenvorständen begriffen worden. Niemand wird aber auch bestreiten können, dass sich im Blick auf die Gesamtsituation der Kirchenmitgliedschaft eine wirkliche Systemtransformation hin zu sich selbst verwaltenden Kirchengemeinden bisher immer noch nicht ergeben hat und die übergroße Masse der Kirchenmitglieder die Kirche kaum viel anders als eine letztlich vorgegebene Institutionen erlebt, auf die sie wenig Einfluss nehmen können – auch wenn es natürlich abstrakt immer richtig ist zu sagen, dass sie es doch könnten wenn sie nur wollten. Insofern weisen unsere Kirchen immer noch erhebliche anstaltliche Charakteristika auf, zu denen die mentale Nichtangewiesenheit auf die Zustimmung der Mitglieder elementar dazu gehört. Im Fokus der Kirche sollen nicht die Mitglieder mit ihren Interessen und Bedürfnissen stehen, sondern die Erfüllung des Auftrags der Kirche. Natürlich muss das kein Widerspruch sein, tatsächlich aber fehlt ein sonst in vielen Organisationen vorhandener überlebenswichtiger Mechanismus: nämlich die strukturelle Rückkopplung von Mitgliederentscheidungen und Mitgliederinteressen im das „Programm“ der Kirche. Faktisch sind Eintritts- und Austrittsentscheidungen von den grundlegenden Steuerungsentscheidungen der Organisation Kirche entkoppelt.
Man kann sich die damit gegebene Ambivalenz des Mitgliederbezuges der Kirche sehr schön an der gerade neu verabschiedeten Verfassung der Hannoverschen Landeskirche deutlich machen. Im Bewusstsein der Notwendigkeit, sich auf die Mitglieder beziehen zu müssen, ist der am Anfang der Verfassung befindliche Abschnitt über die Kirchenmitglieder modernisiert worden. Früher hieß es z.B.: „ …. wer sich lossagt.“ – heute nur noch wer „austritt.“ (was folglich kein Lossagen mehr beinhalten muss). Und weiter früher: „“Sie haben die Pflicht, sich an Wort und Sakrament zu halten, ein christliches Leben zu führen ….“ usw. Heute sind sie „aufgerufen“, sich zu beteiligen. Aber die Struktur hat sich nicht geändert. Und so bleiben seltsam wirkende Formulierungen haften. Interessant ist z.B., dass alle wichtigen Formulierungen im Indikativ formuliert sind. So heißt es zum Beispiel: „Die Mitglieder der Landeskirche wirken gleichberechtigt am Auftrag der Kirche mit.“ Und weiter dann, dass alle Mitglieder aufgerufen sind, mitzuarbeiten: „Die Landeskirche informiert sie in geeigneter Weise über wichtige Angelegenheiten des kirchlichen Lebens.“ (Art. 9). Ausgetretene bleiben eingeladen, wieder Mitglied der Kirche zu werden (Art. 10). Und dann strukturell ganz entscheidend der Satz: „Jedes Mitglied der Landeskirche ist Mitglied einer Kirchengemeinde.“ (Art. 7) Ohne diese Formeln nun im einzelnen weiter analysieren zu können, bleibt doch mein Eindruck erhalten, dass die Mitglieder immer noch etwas anderes sind als „die Kirche“, zu der sie doch eigentlich nicht nur gehören sondern diese in gewisser Hinsicht geradezu ausmachen. Besonders deutlich wird dieser Charakter dann, wenn man der Zuordnung der Mitglieder zu einer Kirchengemeinde weiter nachgeht und schon in Art. 21 zu lesen bekommt, dass die Kirchengemeinden eine mehr oder minder reine Verfügungsmasse der Kirchenleitung bzw. des Landeskirchenamtes sind. Sie kann Kirchengemeinden jederzeit neu gründen, auflösen und fusionieren – kann das im Übrigen auch mit den Kirchenkreisen (Art. 32) tun. Die elementare Mitgliederzuordnung: ihre Einbindung in die Kirchengemeinden ist folglich nicht allzu viel wert. Sie ist eigentlich nur Unterordnung. Die Kirchenleitung kann mit ihr jederzeit „spielen“. Das bedeutet aber doch nichts anderes, als dass schon an dieser elementaren Stelle Mitgliederinteressen und Interessen der Kirchenleitung nicht nur nicht aufeinander bezogen sind, sondern strukturell entkoppelt bleiben müssen. Man kann darauf natürlich antworten, dass sie als Kirchenmitglied ja Mitglied der Kirchenleitung werden könnten. Im Prinzip! Aber diese Antwort verbietet sich eigentlich von selbst. Dabei ist immer wieder deutlich und wird gerade von Kirchenleitung bei jeder sich passenden Gelegenheit immer wieder betont, dass es gilt die Mitgliederinteressen ernst zu nehmen. Die Kirche ist – auf jeden Fall auch – eine Mitgliederorganisation. Vielleicht eine solche sui generis – aber sie ist es. Sie kann das nur um den Preis der Selbstvergessenheit ihrer Struktur, bzw. eben in reiner Eigenresonanz, verleugnen.
Damit ist zugleich, und das sei an dieser Stelle eingeschoben, etwas über die Rolle der Kirchengemeinden gesagt. Dadurch, dass die Mitglieder an allererster Stelle eben einer Kirchengemeinde zugeordnet werden, die dann in der Folge für sie verantwortlich zu sein hat – wovon allerdings in der Verfassung nichts gesagt wird – haben Kirchengemeinden eine überhaupt nicht zu überschätzende Funktion für die Mitgliederbindung. Kirchengemeinden sind die Basisorganisationen der Kirche und alle Untersuchungen zeigen, dass sie von den Mitgliedern auch in dieser Hinsicht wahrgenommen werden. Wenn man kirchlicherseits der Meinung ist, dass diese Struktur nicht mehr leistungsfähig genug und insofern überholt sei, dann sollte man doch bitte die Mitglieder primär anderen kirchlichen Einheiten oder vielleicht sogar der Kirche insgesamt zuweisen. Allerdings ist diese Zuweisung zur parochialen Ebene natürlich auch ein seit Jahrhunderten wirkendes anstaltliches Element und zwar eines der wichtigsten.
Nun wirkt diese anstaltliche Reststruktur der Kirche insgesamt auf die Mentalität der Menschen ein. Nicht zuletzt hat sie mit einer weitverbreiteten Haltung zu tun, die die eigene Entscheidung über Kirchenaus- oder -eintritt von der Leistungsfähigkeit oder überhaupt von der Existenz der Kirche insgesamt ablösen kann. Zumindest wird für den einzelnen nicht deutlich genug, dass ihr oder sein Austritt gravierende Folgen für die Präsenz von Kirche vor Ort hat, denn im Wesentlichen verändert sich durch einen Austritt ja gar nichts: normalerweise niemand reagiert darauf. Anstaltliche Strukturen fördern in dieser Hinsicht die Indifferenz: wer würde sich schon für die Existenz der Arbeitsagentur für verantwortlich halten? Anders kann dies nur auf der Ebene der Kirchengemeinden aussehen, dort wo konkrete Angebote im lokalen Nahraum auf die Interessenlagen der Mitglieder stoßen können – wenn es sie denn gibt. Natürlich gibt es auch die mediale Präsenz der Kirche, z.B. prominent und weit verbreitet seit vielen Jahren „chrismon“.
Das entscheidende Scharnier zwischen Kirche und Mitgliederinteressen stellen aber natürlich die Pastoren und Pastorinnen und andere kirchliche Akteure dar. Durch die Art ihrer Kommunikation bringen sie den Mitgliedern Anerkennung und Wertschätzung entgegen, machen sich durch ihre Präsenz ansprechbar – oder aber sie tun es eben nicht. Wie sich dies im Einzelnen genau abspielt, ist mangels entsprechender Studien kaum empirisch abgesichert zu beantworten. Kommunizieren Pastorinnen und Pastoren wirklich offen, freundlich und verbindlich oder weisen Sie (zum Beispiel durch übertrieben joviales Verhalten) Mitglieder eher ab? Das wissen wir im Einzelnen nicht genau und damit fehlt uns Wissen über due fast alles entscheidende Kommunikationsebene der Kirche. Die großen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchen der EKD analysieren die Frequenz des Kontaktes – da hat sich einiges zu eher anonymeren Begegnungen verschoben. Aber sie lassen völlig offen, wie der Kontakt denn erlebt wird.
Was aber aus einer ganzen Reihe von Studien über das Selbstverständnis und die Selbstwahrnehmung von Pastoren bekannt ist, ist ein Spezifikum ihrer Mentalität, das wiederum sehr viel mit Eigenresonanz zu tun hat. So mag es sein, dass Pastoren und Pastorinnen recht gut Interessen und Bedürfnisse anderer wahrnehmen können – für ihr eigenes Selbstverständnis haben sie jedoch wenig Bedeutung. Pastoren und Pastorinnen beziehen sich in ihrer Selbstwahrnehmung primär auf ihr eigenes „inneres“ Selbstverständnis und finden Kriterien für einen „Erfolg“ ihrer Arbeit – intrinsisch – genau hier. Deutlich zu erkennen ist deswegen eine Distanz zu Erwartungen anderer an ihre eigene Arbeit, sei es aus der eigenen Gemeinde oder gar aus übergemeindlichen Anspruchslagen. Auch Entwicklungen der eigenen Gemeinde, so zum Beispiel ihr Schrumpfen oder Wachsen, oder auch die Frage einer zunehmenden „Überalterung“ beunruhigen sie eher nicht. Distanziert sind sie auch nach wie vor gegenüber modernen Organisationsmethoden, wie der Vereinbarung von Zielen und der konsequenten Evaluation ihrer Erreichung. Ihre Selbstkonzepte sind ohnehin nicht besonders präzise, so dass sich schon von daher eine beständige Relativierung von Außenorientierungen ergeben muss, denn wer nicht genau sagen kann, was er oder sie mit ihrer Arbeit erreichen will kann deren Wirkungen natürlich auch nicht in der Umwelt überprüfen. Im Vordergrund steht somit eine starke Selbstbezüglichkeit ihres Selbstverständnisses, was mit der notwendigen Authentizität zu tun haben wird, die für die Ausübung ihres Berufes absolut notwendig ist. Der starke Bezug auf Eigenresonanz ist folglich einerseits völlig funktional – aber andererseits blockiert er notwendige Aussenbezüge, die für eine organisationale Entwicklung der Arbeit unabdingbar wären.
Was im Übrigen auffällt ist die bei aller Klage über zunehmende Arbeitsbelastung insgesamt doch recht große Zufriedenheit, die die Kolleginnen und Kollegen an den Tag legen. Diese Zufriedenheit kann nicht aus der Lage der Gemeinde oder der Kirche insgesamt resultieren sondern ergibt sich fast ausschließlich aus dem Bezug auf sich selbst. Das heißt es ist eine eigenresonante Zufriedenheit: Ich bin mit mir selbst zufrieden. Und das ist ja auch nichts Schlechtes, sondern für die Ausübung eines Berufes, der gesellschaftlich an Anerkennung verloren hat, wahrscheinlich von fundamentaler Bedeutung. Dennoch muss man an dieser Stelle fragen: Wo bleibt eigentlich die Unruhe, die Ungeduld, die Unzufriedenheit mit der Situation der Kirche oder auch der des Landes, mit den Menschen, die der pastoralen Arbeit im Regelfall nur noch mit Indifferenz begegnen. Wo ist das Interesse an den anderen in den pastoralen Selbstkonzepten eigentlich verankert? Die Hauptklage der Pastorinnen und Pastoren ist, dass sie zu wenig Zeit und Muße zur theologischen Arbeit hätten. Was ist damit genau gemeint? Ist es der Wunsch nach einer Verarbeitung der Situation des modernen Menschen, wie ich es zu Beginn dargestellt habe? Oder ist es die schlichte Sehnsucht nach mehr Zeit für sich selbst, ohne darin von den Mitgliedern der Kirche oder gar von anderen belästigt zu werden? Auch das wäre natürlich nichts Verwerfliches sondern etwas was es in allen Organisationen der Welt gibt und was klassisch unter dem wunderbaren Satz eines Verkäufers rubriziert: „Mein Gott, was tue ich bloß? Da kommen ja Kunden!“
Von strukturell vielleicht noch größerer Bedeutung ist nun die Tatsache dass sich diese mental – kommunikative Haltung unter den Pastorinnen und Pastoren in einer ganz ähnlichen Form auch in den Leitungsgremien der Kirchengemeinden abbildet. Darauf hat das erste Kirchengemeindebarometer des SI der EKD seinerzeit hingewiesen. Zwar ist in den Kirchenvorständen die Wahrnehmung von Defiziten in der Gemeindearbeit, zum Beispiel in der Kinder und Jugendarbeit, sehr gegenwärtig. Zugleich aber ist kennzeichnend, dass sich das Interesse in den Kirchenvorständen, und in dieser Hinsicht auch ihre Beschreibung der gemeindlichen Situation, weniger auf die Verstärkung religiöser Aktivitäten und in dieser Hinsicht auf Verbesserung der Plausibilität religiöse Kommunikation richtet, sondern sehr viel eher auf soziale Aktivitäten. Die Gemeindearbeit insgesamt wird sehr viel deutlicher in dieser Hinsicht einsortiert, wobei das Soziale stark mit gemeinschaftlichen Vorstellungen assoziiert zu sein scheint. Dabei ist es im Verhältnis zum Religiösen insgesamt ein sehr viel diffuseres Konzept, unter dem sich der verschiedensten Interessen versammeln können. Es ist nicht so deutlich erfassbar, wohingegen im Blick auf religiöse Aktivitäten eine missionarische Ausrichtung der Kirchengemeinden aber fast überall abgelehnt wird.
Entscheidend in unserem Zusammenhang sind jedoch weniger diese inhaltlichen Zuschreibungen der Kirchenvorstände auf ihre eigene Kirchengemeinde sondern ist das Verständnis ihrer eigenen Arbeit. Hier zeigt sich nun bei genauerer Analyse, dass sich die Frage, ob Kirchenvorstände eine erfolgreiche oder nicht erfolgreiche Arbeit liefern, nicht so sehr über eine genaue Evaluation der Gemeindearbeit beantworten lassen, sondern vor allem durch Blick auf sich selbst d.h. durch die Beschreibung des Klimas in den Kirchenvorständen selbst beantwortet wird. D.h., dass sich die Mitglieder eines Kirchenvorstandes dann einig sind, gute Arbeit geleistet zu haben, wenn sie sich untereinander mit Wertschätzung und Anerkennung begegnet sind und in dieser Hinsicht die Arbeit in den Vorständen befriedigend war. Die Lage der Gemeinde ist demgegenüber nicht so entscheidend. Wiederum findet sich hier systemische Eigenresonanz verwirklicht. Etwas zugespitzt kann man sagen, dass weder die genaue Situation in der Gemeinde noch gar die Situation im Umfeld der Gemeinde auf großes Interesse in den Vorständen stößt. Die Folgen liegen auf der Hand.
Man könnte nun an dieser Stelle fragen, woher dieses im Grunde genommen doch eigenartige Verhalten resultiert? Anders gefragt: Warum gibt es keine massive Unzufriedenheit unter den Pastoren und in den Gemeinden? Alles wird immer weniger und schwieriger – aber man nimmt das so hin. Hauptsache, die Stimmung unter uns bleibt gemeinschaftlich – was aber deutliche Kritik immer wieder an den Rand rückt und im Zweifel sogar stigmatisiert. Hat dies mit der anstaltlichen Situation der Kirche insgesamt zu tun, die eine mögliche Wahrnehmung selbstverantwortlicher Verantwortung für die eigene Gemeinde faktisch immer wieder unterläuft? Hat es mit dem pastoralen Amtsverständnis zu tun? Für mich war im Umfeld von vielen Dutzenden von Vorträgen auf Kirchenkreistagen und in Kirchengemeinden eine Erfahrung prägend. Wann immer ich einen entsprechenden Vertrag gehalten habe, habe ich mit der These geschlossen, dass die Zukunft der Kirche nicht irgendwo sondern konkret „hier“ im Kirchenkreistag oder in einer Gemeinde entschieden werden würde. Aber das stieß nicht auf Zustimmung. Nach dem obligatorischen Beifall meldete sich regelmäßig jemand und korrigierte mich: Nein, nicht hier in unserer Gemeinde oder in unserem Kirchenkreis, sondern in den Landeskirchenämtern würde über die Zukunft der Kirche entschieden. Darauf hätte man keinen wirklichen Einfluss. Eigentlich erstaunliche Sätze. Ist das so? Wenn es so ist, dann stimmt etwas an der Konstruktion der Basis von Kirche nicht. Ob man es nun besonders schön findet oder nicht: die Kirchengemeinden sind für die Kirchenmitglieder die entscheidende Resonanzebene. Das mag im katholischen Bereich anders sein, aber in unserer evangelischen Kirche wird Kirche, wenn überhaupt, dann hier erlebt. Ganz elementar z.B. im schlichten Vorbeilaufen am Kirchengebäude. Wenn sich aber diese Ebene als nicht wirklich verantwortlich für die Zukunft von Kirche erfährt, erodiert an dieser alles entscheidenden Stelle die Mitgliederbindung.
Nun müsste man in der Richtung dieser Analyse weitere Arbeitszweige der Kirche analysieren, zum Beispiel die für die Zukunft von christlichen Glauben und Kirchenbindung alles entscheidende Ebene der frühkindlichen Sozialisation, d.h. insbesondere der Kindertagesstätten – Arbeit und der Kinderarbeit allgemein. Mit welcher Wirkung wird hier religiöse Sozialisation betrieben? Dazu fehlt es an Studien Des Weiteren müssten Formen übergemeindlicher Arbeit, und insbesondere die Kirchenmusik als dem wohl umfassendsten ehrenamtlichen Bereich der Kirche in den Blick genommen werden. Es könnte gut sein, das sich in bestimmten Aktivitäten der Kirche die eher an den „Markt“ angekoppelt sind (zum Beispiel in der evangelischen Erwachsenenbildung oder auch in den Evangelischen Akademien) sehr viel deutlichere Rückkopplungen von Mitgliederinteressen an Angebote finden lassen, da nachlassendes oder wachsendes Interesse hier sehr viel schneller- gerade auch in finanzieller Hinsicht – durchschlägt. Daraus können gegebenenfalls Modelle einer besser rückgekoppelten Angebotsentwicklung abgeleitet werden.
Generell aber muss festgehalten werden, dass die Kirche in ihrer gegenwärtigen Struktur unzureichend an Mitgliederentscheidungen angebunden; viel mehr von ihnen zu weit abgekoppelt ist. Eine Kirchengemeinde wird zwar in der Regel über Listen mitbekommen, wer ausgetreten oder auch eingetreten ist – welche Folgen diese Entwicklung jedoch gerade im Blick auf die letztlich entscheidende finanzielle Situation hat, bleibt ihr weitgehend verborgen. Das führt zu einer ersten weitergehenden Überlegung: die Kirchengemeinden müssten über die finanziellen Folgen ihrer Mitgliederentwicklung informiert werden; sie müssten besser die diesbezüglichen Wirkungen von Ein- und Austritten erfahren können. Und dies dürfte nicht nur in abstrakter Hinsicht der Fall sein, sondern müsste mit Folgen für die Arbeit in die Kirchengemeinden und deren Finanzierung verbunden sein. Also anders gesagt: Kirchengemeinden die sich bemühen, Kirchenbindung zu verstärken und Ausritte zu verringern müssten davon etwas konkret haben können. Dann könnte man z.B. erkennen, welche Bedeutung der kirchengemeindliche Kindergarten für die Mitgliederbindung hat und er würde besser in das Leben der Kirchengemeinde eingebunden – sofern die Gemeinde überhaupt noch auf ihn Einfluss hat.
Nun muss man an dieser Stelle natürlich darauf hinweisen, dass das alte System der institutionellen Abkopplung der kirchlichen Arbeit von den Mitgliederinteressen qua anonymer Erhebung der Kirchensteuern auch große Vorteile gehabt hat. Es sicherte die Freiheit und Unabhängigkeit gerade der pastoralen Kommunikation und damit der Verkündigung in den Kirchengemeinden. Und das ist natürlich in keiner Weise gering zu schätzen. Das ganze System mit all seinen im weltweiten Vergleich komfortablen Absicherung der kirchlichen Arbeit konnte deswegen durchaus auch theologisch als institutionelle Umsetzung eines Kirchenverständnisses verstanden werden, in dem die Kirche nicht eigentlich Ziele und Interessen – auch keine der Mitgliederbindung – verfolgt, sondern sich ausschließlich von ihrem Auftrag her in der Gesellschaft bewegen kann. Heute wird allerdings immer klarer, dass die Voraussetzung für dieses System eine umfassende Einbettung von Kirche und christlichen Glauben in der Gesellschaft ist, die dazu führte, dass man wenig Zeit auf Fragen der institutionellen Absicherung oder gar des Agierens in einer missionarischen Situation verwenden musste. Wo Kirche und Glauben in dieser Hinsicht selbstverständlich sind ist die eigenresonante Wirklichkeit der Kirche zu großen Teilen deckungsgleich mit dem, was in der Gesellschaft geschieht. Wobei man natürlich sofort einwenden kann, dass dies nie für die gesamte Gesellschaft galt, sondern nur für spezifische mittlere gesellschaftliche Milieus. Aber das reichte für die Reproduktion von religiöser Kommunikation und Kirche eine ganze Zeit lang aus.
Heute aber ist diese Situation definitiv zu Ende gekommen. Weder Kirche noch Religion ist in der Gesellschaft noch selbstverständlich. Im Gegenteil: es muss heute um die Handlungsmöglichkeiten von Kirche und um die Relevanz von christlichen Glaubensüberzeugungen aktiv gekämpft werden! Nichts geschieht hier mehr von selbst. Eine früher vorhandene naturgegebene Nachfrage nach Kirchen und Glauben erodiert immer weiter. Religion und Kirche sind deswegen gezwungen, sich angebotsorientiert zu verhalten aber in der Entwicklung von Angeboten Interessen der Menschen aufzunehmen und immer wieder neue Gelegenheiten der Begegnung mit Kirche und Glauben zu schaffen. Im Grunde genommen braucht es hierfür kirchliche Planungseinheiten, die die Entwicklungen in der Gesellschaft – von der Musik, über kulturelle Produktionen aller Art bis hin zu grundlegenden Werteverschiebungen – beobachtet und in aktives Handeln umsetzt: eine neue Art von apologetischer Zentrale! Was sicherlich nicht mehr ausreicht ist als die Schaffung von kleinen Arbeitsstellen in Reaktion auf neue soziale Bewegungen oder Ähnlichem. Das verkennt die Bedeutung der gesellschaftlichen Verschiebungen.
Um das Bild abzurunden, muss nun auch noch nach gegenwärtigen Reformkonzepten in unseren Kirchen gefragt werden. Und da läuft natürlich eine ganze Menge, was durchaus in vielerlei Hinsicht mit Aufbrüchen in Richtung einer verbesserten Kommunikation mit anderen zu tun hat – von Erprobungsräumen mit der Förderung experimenteller Projekte (z.B. den „freilaufenden Pastorinnen“), missionarischen Beauftragungen und vielem mehr. Von besonderer Bedeutung scheint mir insbesondere der gegenwärtige Boom an einer sozialraumorientierten Ausrichtung der Kirchengemeinden zu sein – worauf ich zum Abschluss noch einmal eingehen werde. Entscheidend für das Gesamtgepräge sind diese Aktivitäten aus meiner Sicht aber nicht, denn das sind die überall anzutreffenden Bestrebungen, den gesamten Bau der Kirche angesichts zu erwartender geschrumpfter Finanzen deutlich herunter zu fahren. Eine Reihe von Mitglieder- und Finanzprognosen, die in der letzten Zeit angestellt worden sind (zum Beispiel die bekannte Freiburger Prognose von DBK und EKD), dienen dazu, die Notwenigkeit des Runterfahrens einzuschärfen und legen mithin in dieser Hinsicht den Abbau von Stellen und insbesondere – und das scheint mir von alles überragende Bedeutung zu sein – die Reduktion von Kirchengemeinden d.h. ihre Fusionierung (mit den Vorstufen von Regionalisierung und anderen Kooperationsformen) nahe. Parallel dazu kommt es in der Regel zu einer Aufwertung der mittleren kirchlichen Ebenen d.h. der Kirchenkreise.
Ich will an dieser Stelle gar nicht über die letztendliche Notwendigkeit solcher Reduktionen diskutieren. Natürlich schlägt der Rückgang von Mitgliedern und von öffentlicher Resonanz auf die Bereitstellung von kirchlichen Angeboten negativ durch. Wenn eine Kirchengemeinde fünf Predigtstellen hat und in die Gottesdienste im Durchschnitt noch 2-3 Personen kommen dann kann man so etwas nicht mehr lange vorhalten. Das generelle Schrumpfen wird weitergehen. Nicht ob, sondern wie es geschieht, ist die Frage. Denn auf der anderen Seite ist natürlich auch deutlich, dass durch das Runterfahren die Gelegenheiten für Kirchenmitglieder sich in irgendeiner bedeutsamen Form zu engagieren ebenfalls reduziert werden und auf diese Weise die Abwärtsspirale verstärkt wird. Meine eigene Kirchengemeinde soll jetzt mit zwei weiteren fusioniert werden, was ganz praktisch bedeutet, dass aus bisher drei Kirchenvorständen mit insgesamt fast 30 Personen in Zukunft nur noch einer mit 10 Mitgliedern resultiert. Und dieser eine Kirchenvorstand ist dann natürlich geographisch aber auch sozialkulturell weiter entfernt von den Menschen in den Dörfern, als dies bisher der Fall war. Wege werden begangen, um diese Defizite durch erhöhte ehrenamtliche Aktivität auszugleichen. Um dies zu erreichen müsste die Attraktivität der gemeindlichen Ebene, und d.h. ihre Autonomie deutlich gestärkt werden.
Was könnte nun in dieser Situation hilfreich sein?
In diesem dritten und letzten Teil meiner Überlegungen soll es nun um die Antworten auf die Frage gehen, was in dieser Situation hilfreich sein könnte um die eigenkirchliche Resilienz zu stärken und im vollen Bewusstsein der Schrumpfungsprozesse sozusagen den Kopf oben behalten zu können. In genereller Hinsicht habe ich meine Vorschläge ja auch schon angedeutet: es geht um die Förderung religiöser Autorschaft mit dem Ziel einer verbesserten extensiven und intensiven Kommunikation mit Kirchmitgliedern und anderen. Dabei ist die Klärung der Verantwortlichkeit für Kirchenbindung vorrangig. Ein Großteil der heute noch relativ großzügig vorhandenen Ressourcen muss gezielt für diese Aufgabe eingesetzt werden. Sofern dies nicht geschieht muss man angesichts der gegenwärtigen Situation der Kirche deutlich von Ressourcenverschwendung reden. Wenn es immer noch so ist, wie zu meiner aktiven Zeit in der Gemeinde, dass die Kommunikation von Pastoren zu über 80 % mit über 70-jährigen erfolgt, müssen alle Alarmsirenen heulen. Um es etwas flapsig mit einer alten, aber immer noch gut zitierbaren, Parole aus der Wirtschaft zu formulieren: „Add value, or don’t do it!“ – „Add members or don’t do it!“ Eine alltagspraktische Maxime, die man m.E. nicht mehr beiseiteschieben kann. Und zwar nicht nur wegen dem Bestand der Institution Kirche – obwohl es ihn natürlich nicht zu verachten gilt – sondern wegen der Zukunft des Christentums in unserer Ich – Gesellschaft.
Damit so etwas greifen kann, müssen Ziele unserer Arbeit definiert werden, um überhaupt Erfolge und Misserfolge in der Arbeit sichtbar und zurechenbar machen zu können. Das ist nicht immer nur angenehm – gar keine Frage! Es deckt Schwachstellen und Hohlräume auf. Aber es ist nicht der Druck „von oben“, der hier das Unangenehme befördern kann, sondern es ist die Situation unserer Kirche insgesamt, die immer weniger angenehm wird und eigentlich immer deutlicher Unzufriedenheit und Ungeduld herausfordern sollte. Mich wundert, warum es nicht längst regelrechte Aufstände in der Kirche gibt, um mit dem alten zu brechen und neue Wege zu fordern! Was es in dieser Hinsicht zu allererst braucht, ist eine große Studie über das kommunikative Verhalten von Pastorinnen und Pastoren in der Wahrnehmung von Kirchenmitgliedern und anderen. Bisher scheuen wir solche Studien wie die Teufel das Weihwasser – nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil wir möglichweise Angst vor den Ergebnissen haben. Die von mir referierten Ergebnisse aus den Pastorenstudien lassen erwarten, dass durchaus markante Defizite in dieser Kommunikation vorhanden sein können.
Wie gesagt: Der Kern des Problems besteht in einer wesentlich besseren Verknüpfung von Mitgliedererwartungen bzw. – interessen (dem, was Mitglieder wollen) und den kirchlichen Programm. Kirchenmitglieder und auch alle anderen müssen prospektiv erfahren können, dass die kirchliche Arbeit mit allem, was dazugehört wegbricht wenn sie selbst die Kirche nicht mehr unterstützen – und was noch wichtiger ist, sie müssen die Gewähr dafür haben, dass sie dann, wenn sie sich für ihre Kirche einsetzen, tatsächlich auch etwas für die Stabilisierung der Angebote tun. Direkte, konkret erfahrbare Bezüge sind deswegen von ganz großer Bedeutung und alleine schon deswegen bleibt die Ebene der parochialen Kirchengemeinden trotz aller Schwächen von erheblicher Bedeutung. Denn nur hier kann man solche konkret erfahrbaren Bezüge herstellen.
Ökonomisch gesehen geschieht eine Verknüpfung von Angebot und Nachfrage, also von Mitgliederinteressen und kirchlichen Angeboten, dann am präzisesten, wenn sie sich über Marktmechanismen vollziehen kann. D.h. wenn es mindestens eine gemeinsame Austauschebene von Interessen und Angeboten gibt – oder anders gesagt: wenn es nicht nur deutlich wird, wofür Mitglieder bereit, sind finanzielle Mittel aufzuwenden, d.h. welchen Tausch sie eingehen wollen, sondern wenn dieser Tausch auch erhebliche Relevanz für das Anbieten von Angeboten hat. Es braucht folglich in dieser Hinsicht – flapsig gesagt – mehr Marktwirtschaft in unserer Kirche, was zugleich die Notwenigkeit impliziert, sich auf ein weites Feld mit sehr vielen anderen säkularen Konkurrenzangeboten einzulassen. Diese Konkurrenz existiert bereits im religiösen Feld zwischen verschiedenen Anbietern aber sie existiert darüber hinaus auch weit in den vermeintlich säkularen Raum hinein. Hier wachsen auf allen Ebenen immer mehr hoch attraktive Angebote, die sich in der Leistung in Richtung Sinnstiftung kaum noch von kirchlichen Angeboten unterscheiden. Tatsächlich sind wir aber von einem aktiven Agieren auf solchen religoiden Märkten weit entfernt, da unsere Kirche aufgrund ihrer derzeitigen Verfasstheit es schlicht nicht nötig hat, sich wirklich der Konkurrenz zu stellen. Ökonomisch gesehen verhält sich unsere Kirche nur in wenigen Bereichen wirklich marktwirtschaftlich, im Grunde genommen aber operiert sie eher planwirtschaftlich – so als könnte sie die Religion in der Gesellschaft verwalten und würde Interessen und Bedürfnisse der Mitglieder bestens kennen. Die Situation ist ein wenig mit den öffentlich – rechtlichen Medienbetreibern zu Beginn der privaten Konkurrenz vergleichbar.
Eine bessere marktwirtschaftliche Aufstellung der Kirche braucht so etwas wie die immer mal wieder zitierten „Ekklesiopreneure“. Das wären Personen, die sich quasi unternehmerisch auf die veränderten religiösen Nachfrage- und Angebotsstrukturen einlassen und innovative Angebote entwickeln. Dabei sind sie bereit, Risiken einzugehen – auch Risiken des Scheiterns. Sie haben ihre Mission im Hinterkopf und sind darin verliebt, Menschen für die Kirche und das Evangelium zu gewinnen. Ihre der Sache bestünde darin, dass es ihnen um den Aufbau resilienter, nachhaltiger und sich selbsttragender Strukturen geht, die nicht mehr von der kirchlichen Finanzkraft abhängig sind. Das wären entweder einzelne Personen oder kleinere autonom bzw. selbstverantwortlich operierende Einheiten. Ihnen lässt unsere Kirche Unterstützung zukommen, selbst dann, wenn es sich um möglicherweise etwas schräge Ideen und vielleicht sogar um die Konkurrenz zu herkömmlichen kirchlichen Angeboten handelt. Man könnte an dieser Stelle vielleicht ja auch soweit gehen, dass man als Voraussetzung für eine berufliche Laufbahn in der Kirche, sprich für eine Verbeamtung, eine Zeitlang in solchen offenen ungesicherten Strukturen voraussetzt. Das wäre sozusagen eine Art Exposure – ein radikales Sich – Aussetzen den anderen gegenüber. Allerdings: die Operationslogik solcher „unternehmerischen“ Prozesse liegt nicht selten quer zu landeskirchlichen Verwaltungsverfahren. Konflikte sind folglich programmiert.
Dies wäre eine sehr weitgreifende, ja radikale Vision eines anfänglichen Umbaus der Kirche von einer letztendlichen Anstalt, die auf ihre Mitglieder keine Rücksicht nehmen muss, hin zu zivilgesellschaftlichen oder vielleicht sogar eigenwirtschaftlichen Einheiten, die in großer Selbstverantwortlichkeit, mit dem Ziel sich selbst auf finanziell auf eigenen Füßen zu halten, in der Gesellschaft operieren. Es werden wenige sein, die diesen Weg von sich aus gehen, das ist keine Frage. Es bleibt auf absehbare Zeit interessemäßig zwingender, sich in die große Kirchenorganisation hinein zu begeben. Natürlich kann man auch jeden verstehen, der diesen Weg der Ungesichertheit als Ekklesiopreneur vorzieht. Und sicherlich gibt es auch eine ganze Menge Möglichkeiten, innerhalb des bestehenden Entwicklungpfads der Kirche die Verknüpfung von Mitgliederinteressen und Kirchenprogramm zu verbessern. Das könnte zum Beispiel damit beginnen, dass die schlichten Rückbaukonzepte, sprich die Fusionierung von Kirchengemeinden, stets mit der Entwicklung zumindest einer neuen richtungsweisenden Aktivität verbunden werden: keine Fusion ohne Vision! Das würde bedeuten dass man davon abkommt, bei einer Fusion lediglich Aktivitäten zusammenzulegen, sondern die Aktivitäten und Arbeitsbereiche, die relativ erfolgreich sind, in besonderer Weise durch die Zusammenlegung zu fördern. Nicht das gesamte Programm der fusionierten Kirchengemeinden muss erhalten bleiben, es geht nicht darum Defizite auszugleichen, sondern konsequent Stärken zu stärken. Wenn man folglich mehrere Lichter ausknipst sollte man einen Leuchtturm errichten, der heller strahlt als die bisherigen Lichter. Nur wenn so etwas gegeben, ist könnten Fusionen sinnvoll sein.
Zudem gibt es auch in der gegenwärtigen Struktur unendlich viel zu tun was eine bessere Kommunikation mit den Kirchmitgliedern anbetrifft. Dazu bieten die digitalisierten neuen Welten herausragende Möglichkeiten, die allerdings auch konsequent aufgegriffen werden müssen. Die Chancen, relativ alltäglich mit den eigenen Kirchmitgliedern kommunizieren zu können, waren technisch noch nie so gut wie heute. Das betrifft nicht zuletzt das Management von Begrüßungen oder Verabschiedungen von Menschen aus den Gemeinden bis hin zu einer wenigstens digitalen Kommunikation beim Ein- oder Austritt. Nicht zuletzt die alte Idee von Geburtstagsbesuchen zum 40. oder 50. Geburtstag könnte mit digitaler Unterstützung ohne großen Aufwand bewältigbar sein. Wenn man das vorhandene kirchliche Geld überhaupt irgendwo hinein investiert, dann meines Erachtens in diese Bereiche. Von entscheidender Bedeutung ist hier nicht zuletzt, wie in allen großen Organisationen, dass achtsame Management von Beschwerden. Nichts bindet Menschen so an eine Organisation, wie eine gute aufmerksame und anerkennende Behandlung in Fällen von eigener Unzufriedenheit und nichts stößt sie so ab wie das Gegenteil.
Die Kommunikation mit den Mitgliedern und den vielen Menschen, die längst von der Kirche Abschied genommen haben, hat nicht das Ziel, um es noch einmal zu wiederholen, deren Interessen und Wünsche ganz einfach eins zu eins in das kirchliche Programm hinein zu kopieren. So etwas kann nicht funktionieren, da viele Menschen gar keine wirkliche Vorstellung davon haben können, was sie denn letztendlich von Kirche und christlicher Religion wirklich erwarten könnten. Fragt man Kirchendistanzierte oder unkirchliche Menschen nach ihren Erwartungen von Kirche so stößt man auf banale Klischees und langweilige Images, die sie letzten Endes gerade von einem Besuch von Kirchenveranstaltungen abhalten. Das Muster hierfür ist der für Kirche immer noch zentrale Gottesdienst am Sonntagvormittag, der wie wir aus neueren Studien wissen, nicht nur bei den Unkirchlichen ein schlechtes Image hat, sondern auch bei den der Kirche näher Stehenden. Dabei geht es um ein verfestigtes Fremdbild von dieser Veranstaltung – nicht um diese Veranstaltung selbst. Aber deutlich ist: wenn eine Kirchengemeinde im Gemeindebrief und ihrem Schaukasten vor allem und zentral mit ihrem Gottesdienst am Sonntagvormittag wirbt erfüllt sie zwar die Erwartungen der Masse der Menschen, aber sie tut es genau so, dass diese Menschen fernbleiben. Dieses Paradox gilt es zu knacken und das kann nur angebotsorientiert passieren, d.h. nur durch neue Angebote, andere Atmosphären, andere Musik, die die Menschen mit ihren Interessen und Wünschen überraschen.
Es war für mich in meiner langen Berufszeit in der Kirche immer wieder faszinierend zu erleben, welche großartigen Gottesdienste mit fantastischer Musik und Predigten angelegentlich von Einführungen von Bischöfinnen oder Bischöfen oder anderen Menschen in kirchenleitenden Positionen veranstaltet werden. Dann kann man wirklich Kirche vom Feinsten erleben! Der Witz an der Sache ist nur der, dass diese Gottesdienste für diejenigen veranstaltet werden, die hauptamtlich in anderen Bereichen der Kirche tätig sind und sich dann immer mal wieder irgendwo in Deutschland versammeln. Das durchschnittliche Mitglied erlebt diese herausragenden Gottesdienste eben gerade nicht. Sie vergewissern diejenigen, die ohnehin in guter Stellung und oft auch gut bezahlt dabei sind. Auch das ist natürlich wichtig und von großer Bedeutung: aber irgendwo habe ich dann oft das Gefühl, dass die Energie und auch die Ressourcen, die man an dieser Stelle aufwendet für die Kommunikation mit den Mitgliedern besser investiert wären.
Bevor ich nun in die Schlussgerade biege, ein Einwand. Man kann das alles auch sehr anders sehen. So könnten die aufgezeigten Kommunikationsprobleme der Kirche, insbesondere diejenigen des pastoralen Personals, mit guten Gründen auch als gesellschaftlich notwendig verstanden werden. Die religiöse Kommunikation des Evangeliums sei in der vollentwickelten „Ich – Gesellschaft“ gar nicht anders als eigenresonant zu betreiben, weil sich die Menschen gegen sie immunisiert hätten. Der lebendige Christus sei heute ein Fremder. Wer auch immer sich offen zu ihm bekennt und eine entsprechende lebendige transzendentale Kommunikation entwickle, werde umgehend auch zu einem Fremden. Der Resonanzraum des Christusbezuges sei erheblich geschrumpft. Allein diesen „Namen“ zu nutzen sei schon schwierig, weil es zu eher peinlichen Situationen führen würde. Damit sei aber die Kernkommunikation des Christlichen „peinlich“ geworden und werde deswegen eher verschwiegen. Das mag übertrieben klingen. Aber da ist etwas dran. Die Folge wäre der Rückzug in feste Burgen der gegenseitigen Glaubensstärkung mit hohen Wällen nach außen. Das könnten auch durchaus attraktive Glaubenszentren sein, die gerade durch den Verzicht auf bemühte Außenwirkung eine Wirkung erzielen könnten. Vielleicht ist das tatsächlich der Weg der Zukunft. Vielleicht ist das auch gar nicht das Schlechteste. Aber solange es noch sehr viele Möglichkeiten zur kirchlichen Kommunikation gibt, bin ich zumindest nicht bereit, diesen Weg zu präferieren.
Und deswegen schließlich ein letztes Wort zum Thema Sozialraumorientierung. Damit ist gemeint, dass sich die parochialen Kirchengemeinden gemeinsam mit der Diakonie, anderen Wohlfahrtsverbänden und Akteuren der Zivilgesellschaft sowie den Kommunen aufmachen um für eine Verbesserung von Lebensqualität in ihren Gemeinwesen, Quartieren, Stadtteilen und Dörfern zu sorgen. Es ist ganz erstaunlich und sehr positiv dass solche Aktivitäten, nachdem sie lange wenig Aufmerksamkeit fanden, nun doch in allen Landeskirchen und gerade auch von der EKD gefördert werden. Solch eine Bewegung gab es in den siebziger und achtziger Jahren mit der Rezeption von Gemeinwesenarbeit in der Kirche schon einmal. Aber dieser Boom fand mit der religiös ästhetischen Wende und der Besinnung auf die „Kernkompetenzen“ in den Achtzigern sein Ende. Nun gibt es wieder großes Interesse an entsprechender Vernetzung die mit einer Öffnung der Kirchengemeinden zu ihrem Umfeld einhergeht. Es ist keine Frage, dass dies große Chancen bietet, die Kommunikation mit den eigenen Mitgliedern aber vor allen Dingen auch den anderen Menschen erheblich zu verbessern und auf diese Weise möglicherweise auch kirchliches Leben und religiöse Kommunikation wieder besser sozial einzubetten. Darin liegen auch weitergehende pragmatische Chancen zum Beispiel der Nutzung von kirchlichen Räumen und kirchlichen Gebäuden, die von kirchlichen Aktivitäten alleine nicht mehr gefüllt werden können.
Die Risiken bestehen darin, dass sich das religiöse Leben vergleichsweise verdünnt und das vorhandene große Interesse an sozialen Aktivitäten auch in den Kirchengemeinden alles überdeckt. Die Kirchengemeinden würden dann zu Sozialstationen werden, die letztendlich besser bei der Diakonie als der Kirche aufgehoben wären. Das wäre natürlich immer noch besser als ein Dahinsiechen – aber es wäre auch eine ausgesprochen traurige Entwicklung. Bisher deutet aber nichts darauf hin, dass es in diese Richtung gehen müsste. Es könnte geradezu umgekehrt auch so sein, dass gerade die religiösen Kapazitäten der Verkündigung und dem geistlichen Leben der Kirchengemeinden für die Bewältigung des Zusammenlebens mit anderen, Flüchtlingen, Menschen mit Behinderungen, zu pflegenden Menschen, armen Menschen, von Bedeutung werden. Zentral ist, dass die Kirchengemeinden sich aktiv entsprechender Initiativen annehmen und sich nicht passiv vereinnahmen lassen.
Schließlich: für eine neue Zeit und darin eben auch für eine neue Kirche braucht es auch eine neue Theologie. An ihr gilt es gemeinsam zu arbeiten. Aus meiner Sicht muss es in dieser Theologie konsequent darum gehen, den Glauben an Gott aus der Perspektive der Natalität, der Gebürtlichkeit von uns Menschen zu entwickeln. Gott schafft beständig etwas Neues – und er lässt auch beständig Altes vergehen und sterben. Er ist das Geheimnis ständiger Kreationen aus denen wir leben und auch eines Tages sterben. Er hat uns mit uns selbst beschenkt und berufen, dieses Geschenk unserer selbst an andere weiter zu verschenken. Deswegen wird die Gestalt unserer Kirche vergehen und andere Gestalten von Kirche werden wachsen. Niemand kann letztlich wissen, was die richtigen Wege sein werden. Aber klar ist, dass wir nicht mehr abwarten können, sondern uns auf den Weg machen ihm, Jesus Christus, hin zu den anderen, die ihn vergessen haben oder vielleicht noch gar nicht kennen, bei denen er aber lange lebt, zu folgen. Und wenn wir das tun, dann werden sich neue Horizonte eröffnen, von denen wir noch gar nichts wissen.

Gekürzt: EAK Hannover 24.2.20
Gekürzt: Hannoverscher Pfarrertag 9.3.20