Israel
Israel, der 7. Oktober – Synagoge und Kirche
(Vortrag am „Israel-Sonntag“ in der HVHS Hermannsburg am 4. August 2024)
Dr. Gerhard Wegner Nds. Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens
Mir scheint eine – wie auch immer gestaltete – Diskussion über das Verhältnis von Synagoge und Kirche ohne Berücksichtigung der Ereignisse des 7. Oktober und all dem, was daraufhin geschah, kaum möglich zu sein. Denn das Progrom der Hamas war offenkundig der Beginn eines Großangriffs nicht nur auf Israel sondern auf Jüdinnen und Juden in aller Welt. Wohl noch nie seit dem Ende des 2. Weltkriegs gab es dermaßen ausgreifende antisemitische Aktivitäten rund um den Globus, gerade auch hier in Deutschland, in denen man sich in Hass gegen Israel aber auch gegen Juden überhaupt zu überbieten scheint.
Deborah Weissmann sagt im Gespräch mit Ursula Rudnick: „Ich habe das Gefühl, dass das Überleben des jüdischen Volkes und vor allem des jüdischen Staates nicht mehr so selbstverständlich sind, wie es in den letzten 51 Jahren und vielleicht sogar 75 Jahren der Fall gewesen ist.“ Und spricht von existentiellen Bedrohungen, die sie daran zweifeln lassen, ob überhaupt noch ein Volk der Welt daran „interessiert sein könnte, zu hören, was Jüdinnen und Juden über Gott, die Schrift, den Gottesdienst und die Zukunft zu sagen haben.“ Es ist folglich nicht nur die massive Delegitimisierung Israels, die von interessierten Seiten vorangetrieben werden, sondern es ist die damit verbundene Infragestellung alles Jüdischen, die erlebt werden kann.
Angesichts dieser Situation möchte ich gleich zu Beginn dieses Beitrages klar machen, was mein Standpunkt ist: Es ist die klare und eindeutige Solidarität mit Israel! Davon gehe ich aus und dazu ordnet sich alles ein: auch und gerade jede Kritik an der aktuellen Politik Israels. Man muss sich in aller möglicherweise vorhandenen Uneindeutigkeit entscheiden: für eine letztlich natürlich bedingungslose Existenzberechtigung Israels – oder gegen sie. Letzteres aber ist natürlich keine Option! Und dazwischen gibt es nichts!
Solidarität mit Israel
Im Hintergrund der aktuellen Situation sind tektonische Verschiebungen in der politischen Debatte zu erkennen. In einer rabiaten und sicherlich strategisch geplanten Umkehrung des Täter – Opfer Verhältnisses ist es der Hamas und ihren Verbündeten gelungen, Israel vor der Weltöffentlichkeit als letztlich selbst schuldig für den 7. Oktober hinzustellen. Natürlich wird Israel einerseits stets das Recht zugebilligt, sich gegen den Angriff wehren zu dürfen, aber angesichts des dann stets einsetzenden „aber….“ fragt man sich, ob das wirklich ernst gemeint ist. Andererseits üben natürlich üben gerade jene, die Israel am meisten lieben, Kritik an der Art des Krieges im Gazastreifen oder dem Vorgehen im Westjordanland. Völlig zu Recht. Aber wie gesagt: es ist eine Kritik aus Liebe zu dem Land.
Nun muss man sehen, dass der weltweiten Kritik an Israel letztlich ein antisemitisches Muster unterliegt, demgemäß sich Jüdinnen und Juden eigentlich besser gar nicht wehren sollten, denn sie hätten doch selbst den Holocaust erlebt.1 Heute behandelten sie die Palästinenser wie sie seinerzeit von den Nazis behandelt wurden, so konnte man es schon lange hören. Eine seltsame Verkehrung der Argumentation und eine antisemitische Verharmlosung des Holocaust sondergleichen! Der Aussage: „Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer“ stimmten zwischen 2018 – 2022 stets etwa 13 – 14% der Deutschen manifest zu (2012 allerdings 24,4%!). Schon vor dem 7. Oktober wird israelbezogener Antisemtismus von bis zu 21% der Bevölkerung geteilt („Israels Politik in Palästina ist genauso schlimm wie die Politik der Nazis im Zweiten Weltkrieg“: 19,2 % Zustimmung in der Bevölkerung in 2022).2 Wahrscheinlich werden es heute noch mehr sein. Nicht der Staat Israel macht etwas falsch, sondern es sind „die Juden“! Das ist ein Muster, das heute nach meiner Erfahrung weit verbreitet ist und selbst in ansonsten politisch harmlosen und uninformierten Kreisen zu ungeheuren Erregungen gegen Israel und „die Juden“ führen kann.
Hinter dem steckt ein antisemitisches Grundsyndrom, was wahrscheinlich tief mit christlichen Überzeugungen zu tun hat. Es kommt in einer Aussage eines Herbert von Buttlar zum Ausdruck, die Natan Sznaider3 wieder ausgegraben hat. Buttlar war Ende der 50er Jahre Generaldirektor der Akademie der Künste in Berlin und wollte in dieser Rolle der von den Nazis vertriebenen, aber in Deutschland unvergessenen Mascha Kaleko 1959 den Fontane Preis zukommen lassen. Nachdem sie jedoch feststellte, dass einer seiner Kuratoren Mitglied der SS gewesen war, lehnte sie ab. Daraufhin Buttlar laut Protokoll: er „bedauert, dass die unmenschlichen Erfahrungen der letzten Jahre die Juden um ihre Toleranz gebracht haben, d.h. eigentlich um ihren Charakter, den sie auch in Schicksalstürmen behaupten müssten.“ Ein unglaublicher Satz des toleranten und liberalen Kunstliebhabers vor 70 Jahren! Aber ähnliches kann man immer noch hören.
Nein: die jüdische Folgerung aus dem Holocaust konnte gewiss nicht sein, sich als Juden zurückzuhalten, zu vergeben und Toleranz zu üben, sondern ganz im Gegenteil: sich zu verteidigen und alles zu unternehmen, dass sich so etwas wie in Deutschland nicht wiederholt. Und genau dafür braucht es Israel! Deswegen sind wir grundsätzlich solidarisch mit Israel – pointiert gesagt: ganz gleich, was auch geschieht. Wer das Existenzrecht Israels – auch durch den Verweis auf äußerst problematische politische Aktionen des Staates Israel – infrage stellt ist ein Antisemit und verdient kein Verständnis. Und noch einmal: Das gilt eben auch dann – das ist entscheidend – , wenn der Staat Israel eine Politik betreibt, die kritisiert werden muss. Es ist dies eine Kritik, die die Solidarität mit Israel noch vertieft – nicht sie relativiert! Und das ist letztlich entscheidend.
Tatsächlich laufen viele Diskussionen aber z.Z. genau andersrum: Natürlich stünde das Existenzrecht Israels nicht infrage. Niemals! Aber die Politik, die Israel betreibe, sei kriminell, Netanjahu eigentlich ein AfD Mann und ein Freund von Trump. Und wenn dies alles gesagt und mit dem Kopfnicken anderer bestätigt wurde: Schon braucht man sich über Israels zutiefst bedrohte Existenz keine wirklichen Gedanken mehr zu machen. Die Kritik verschafft einem ein ruhiges Gewissen, ganz gleich, was auch geschehen kann. Man kann dann mit der Menge blöcken, die schon immer wusste, dass den Juden nicht zu trauen sei. Das eigene, tief sitzende, Schuldgefühl wegen der Shoah ist – wieder einmal – erfolgreich verdrängt. Es bleibt bei der paradox-perversen Wahrheit, die Zvi Rex und andere treffend mit dem Satz formuliert haben: „Die Deutschen werden den Juden den Holocaust niemals verzeihen!“ Nur dass diese Mechanismus nun über Israel abgespult wird. So suchen sich manche aus dem Volk der Täter Heilung, ja Erlösung zu verschaffen. Aber das macht alles nur noch schlimmer. Nein: diese Wunde darf nicht heilen!4
1 Vergl. dazu sehr gut Achim Dörfer: „Irgendjemand müsste die Täter ja bestrafen“ Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung. Köln 2021.
2 Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller, Julia Schuler und Elmar Brähler: Die Leipziger Autoritarismus Studie 2022: Methode, Ergebnisse und Langzeitverlauf. In: Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller, Elmar Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus Studie 2022, Gießen 2022, 31-90, 68.
3 Natan Sznaider: Die jüdische Wunde. Leben zwischen Anpassung und Autonomie. München 2024, 151.
4 Werner Weinberg: Wunden, die nicht heilen dürfen. Die Botschaft eines Überlebenden. Freiburg i.Br. 1988.
Der Staat der Juden
Nun fordert die schlichte Anerkennung der Existenz Israels, als eines ausdrücklichen „Staates der Juden“, was Israel ja ist, aber noch weitere, grundsätzliche Überlegungen heraus und mit ihnen betreten wir – dilettierend – auch näher das Feld des Verhältnisses von Synagoge und Kirche. Kann die christliche Theologie, kann überhaupt irgendeine sich universalistisch verstehende Philosophie oder allgemein gesagt eine Einstellung, die für alle Menschen gültige Maßstäbe liefern will, einen „Staat der Juden“ legitimieren? Die Diskussion darüber wird gerne vermieden, aber ist sie zu vermeiden?
Teile von Palästina sind durch eine bewusste „Landnahme“ von Siedlern zu Israel gemacht worden. Ihre Geschichten sind vielfach erzählt worden. Ganz wunderbar geradezu in Form eines magischen Realismus z.B. von Meir Shalev: „Ein russischer Roman“5 über die Besiedlung der Jesreel Ebene vor allem durch russische Juden. Man kann gar nicht aufhören, das zu lesen, so schön ist es alles beschrieben. Auch, das von vorherein Waffen eine Rolle spielten, weil man sich verteidigen musste, ist im Blick. Dass die Wüste wieder zu fruchtbarem Land wurde ist nicht denkbar ohne die Bereitschaft zur Verteidigung. Man kann das generell kritisch sehen und der Meinung sein, diese „Landnahme“ wäre besser nicht erfolgt. Aber das bedeutet dann eine Infragestellung der Existenz Israels und macht deswegen kein Sinn. Zudem müsste dann das Problem gelöst werden, wie Jüdinnen und Juden einen sicheren Ort in der Welt, mit der Möglichkeit, sich verteidigen zu können, finden können. Außerhalb Israels gibt es einen solchen Ort nicht.
Israel ist ohne seine beständige Verteidigungsbereitschaft nicht denkbar. Wer sein Existenzrecht garantieren will, muss seine Verteidungsanstrengungen bejahen und all seine Politik in diesem Licht sortieren. Mehr als sonst in der Welt ist Pazifismus in Palästina illusionär – gefährlich illusionär. Friedensgebete, die in diese Richtung gehen, sind mithin problematisch. Deswegen: Ja, Israel hält Gebiete seit vielen Jahren illegal besetzt. Kein anderes Land der Welt tut das. Aber es gibt auch kein anderes Land der Welt, dass seit seinen ersten Jahren in seiner Existenz derart fundamental bedroht ist.
Und es mag ja sein, dass es Parallelen mit einem imperialen Siedlerkolonialismus gibt, wie es ihn z.B. in Südafrika, Namibia und Australien gegeben hat (und gibt). Allerdings ist es im Fall Israels gerade umgekehrt als sonst: „Die Kolonisierten gründen ein Mutterland. Aber ein Mutterland in einer feindlichen Umgebung.“6 Das postkolonial durchaus angemessene Schema passt nicht auf dieses Land! Das rechtfertigt nichts in seiner konkreten Politik. Aber es verschiebt die Kategorien. Denn ein demokratischer liberaler Staat, ausgestattet mit allen Menschen- und Bürgerrechten, demokratisch und offen: ein solcher Staat als solcher garantiert die Existenz jüdischen Lebens eben nicht. Das ist die bittere Erkenntnis nicht nur der letzten Monate.
5 Meir Shalev: Ein russischer Roman. Zürich 1993.
6 Natan Sznaider, 220.
Rassismus und Antisemitismus
Nur dann, wenn ausdrücklich Antisemitismus gebrandmarkt und Solidarität mit Israel gelebt wird, und diese Haltung sozusagen noch vor universalistischen Werten geteilt wird, also eine Parteinahme für die Besonderheit des jüdischen Lebens und des Staates Israel, als dessen realer und deswegen wehrhafter Gestalt im Mittelpunkt aller Optionen steht, kann Hoffnung für Jüdinnen und Juden real sein. Das ist mehr als eine liberal – demokratische Option, wie sie viele Menschen gerade heute gerne gegen Rechtsradikalismus teilen. Und das färbt das eigene Weltbild spezifisch ein. Menschenrechte ohne Verteidigungsmöglichkeiten gegen ihre Feinde sind nichts wert. Das gilt auch jetzt in Deutschland, was die AfD anbetrifft. Und es gilt generell: Sich verteidigen zu können bedeutet nichts weniger als einen Staat zu haben.
Natürlich sind Menschen, die gegen Antisemitismus votieren immer auch gegen jeden Rassismus engagiert – so wie seinerzeit Abraham Heschel mit Martin Luther – King beim Marsch auf Washington am 28. August 1963 am Lincoln Memorial stand. Man kann dort Kings Rede immer noch hören. Aber umgekehrt gilt es paradoxerweise nicht: Gegen Rassismus zu sein bedeutet nicht auch gegen Antisemitismus zu sein – jedenfalls nicht im Fall des Staates Israel. Im Gegenteil! In machen Diskursen gibt es kein Land der Welt, das so rassistisch auftrete und Apartheid praktiziere, wie Israel. Das führt zu Palästinenser – Camps auf dem Campus und zum offenen Agieren gegen Israel unter faktischer Preisgabe seiner Existenz. Das an sich natürlich gute und richtige Engagement gegen Rassismus und Kolonialismus verkehrt sich so ins Gegenteil. Das ist tragisch und fatal.
Es bleibt dabei: Der Staat der Juden ist ein Skandalon und trifft – mit Natan Sznaider gesagt – „frontal auf ein universales aufgeklärtes Gleichheitsdenken“.7 „In Israel entwickelt sich ein Judentum, das vor allem mit Souveränität und Macht verknüpft ist, …. Der Staat Israel steht auch für die aktive, wehrhafte Haltung von Juden und Jüdinnen.“ Und zugespitzt: „Die Vermischung von Sicherheit als Gottvertrauen und Sicherheit, die der Staat als Verpflichtung sieht, ist daher Teil der israelitischen Staatsräson.“8 Deswegen ist die Aussage, dass man an Israel Kritik üben dürfte, solange sie nicht antisemitisch sei, höchst zwiespältig: „Je stärker man sich vom Antisemitismus distanziert, desto größer steht er als Elefant im Raum. Je häufiger man behauptet, dass es nicht um Juden, sondern um Israel gehe, desto mehr steht für Jüdinnen und Juden auf dem Spiel. Israel ist für diese Jüdinnen und Juden …. Ein Garant ihres prekären Lebens in Deutschland.“9 Wenn einmal klar ist, dass der Staat Israel ein Existenzrecht hat – und dieses Recht sowohl selbst verteidigen können muss als auch von der Weltgemeinschaft darin geschützt werden muss – stellen sich bestimmte Koordinaten des Diskurses von vornherein ein.
7 Natan Sznaider, 213.
8 Natan Sznaider, 215.
9 Natan Sznaider, 199.
Hier ist nicht Jude noch Grieche
Israel, und natürlich die Existenz von Jüdinnen und Juden überhaupt, bezeichnet somit die Grenze jeder Form eines ethischen oder allgemein philosophischen Universalismus. (Oder aber auch, spekulativ gesagt: vielleicht den zentralen Ort seiner Konstitution?) Es gibt, so sagt es Nathan Sznaider mit Hannah Arendt „keinen abstrakten Universalismus, keinen archimedischen Punkt, von dem aus man die Welt betrachten kann.“10 Der Punkt kann nurein konkreter sein, jedenfalls ein partikularer– und eben nicht ein allgemein humaner, der alles nicht – humane als irrrational und vorurteilsbeladen betrachtet und dem Urteil der Vernunft unterwirft. Jeder verallgemeinernde dritte Weg ist illusionär – leider. Das macht nichts einfacher. Im Gegenteil: es macht es schwerer, denn es gibt dann keinen neutralen Standpunkt, von dem her Vermittlung möglich wäre. Den gibt es aber in Bezug auf Antisemitismus und das Leben von Jüdinnen und Juden ohnehin nicht. Ihre Existenz ist der Dreh- und Angelpunkt von allem und natürlich nicht verhandelbar. Sie folgt nicht aus etwas anderen. Es mag sein, dass eine humanistische Position die gleiche Würde aller als Menschen begründen kann. Wie gerne zitieren wir diesbezüglich das Grundgesetz! Die jüdische Erfahrung beinhaltet jedoch den fürchterlichen Bruch: Juden wurden genau in dieser Hinsicht nicht als Menschen begriffen. Und das scheint in manchen Ländern in Bezug auf Israel immer noch so zu sein und rechtfertigt deswegen ihre Forderung nach Beseitigung dieses Staates.
Und der christliche Standpunkt? Beansprucht er denn nicht einen archimedischen Punkt – den Glauben an Gott als Glauben an Christus? Viel ist in den Jahren seit dem 2. Weltkrieg getan worden, um christlich – jüdische Zusammenarbeit nach der Shoa zu fördern und es ist ja auch diesbezüglich nicht wenig erreicht worden. Christen ist heute deutlich, dass es keine Beziehung zu Gott gibt am Volk Israel vorbei. Für ein Verhältnis zu Christus gilt das ebenso. Und dies gilt von Anfang an – jedenfalls, wenn man den Römerbrief 9 – 11 liest. Ich bin nicht kompetent für eine umfassende Auslegung dieses Textes. Aber ganz klar heißt es hier: „So frage ich nun: Hat den Gott sein Volk verstoßen? Das sei ferne! Denn auch ich bin ein Israelit, vom Geschlecht Abrahams, aus dem Stamme Benjamin. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erwählt hat.“ (11,1+2).11 Am Ende wird ganz Israel errettet werden (11,26). Ein Teil Israels ist „verstockt“, so heißt es in der Luther -Übersetzung – aber nur um gerettet zu werden. Paulus‘ Dialektik ist, wie immer, meisterhaft: „Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“ (11,28 f). Wie konnte nur angesichts dieser Sätze ein jahrhundertelanger Judenhass entstehen? Wie konnten Christen jene hassen, die zuerst von Gott geliebt wurden und die Gott immer noch liebt? Und deren Verstockung den Sinn hat, den Heiden – also uns – das Heil zukommen lassen zu können? Und ist für Paulus denn nicht jeder Mensch letztlich gottlos und bedarf der Anerkennung Gottes? Zu einer christlichen Überheblichkeit gibt es keinen Platz.
Ich verstehe Paulus hier so, dass er im Grunde genommen eine Art Ambiguitätstoleranz von den Christen einfordert. Ohne hier jetzt Ernst Käsemanns Theologie insgesamt zustimmen zu wollen sei doch ein Satz seines großen Kommentars zum Römerbrief zitiert, der diesen Punkt auf den Begriff bringt: „Alles kommt darauf an, dass der jüdische Ungehorsam das Heil der Heiden ermöglichte und deshalb beides in schroffer Antithese zusammenrückt.“12 Entscheidend scheibt mir zu sein: Es gibt für Paulus keine universalistische Perspektive, die diese grundlegende Spannung aufheben würde. Auch doch wohl letztlich nicht die grandiose Vision aus Gal 3, 28: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ Der in Christus gegründete Universalismus ist deutlich. Aber man muss sehen: Keiner dieser Differenzen wird real aufgehoben. Auch in Jesus Christus nicht. Gott liebt konkret und nicht im Allgemeinen. Jeder: Jude und Grieche, Sklave und Freier, Mann und Frau – also alle Menschen – hat das Recht auf einen konkreten Platz in der Welt, auf einen Raum. Israel ist dafür das reale Symbol. Denn schließlich heißt es weiter: „Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben.“ (Gal. 3,29). Kein Wort von einer Trennung Jüdisch / Christlich! Und was dem immer noch widerspricht, z.B. die Judensau in Wittenberg, sollte in einem symbolischen Akt zerschlagen werden, wie Landesbischof Meister das gefordert hat, weil diese Darstellung Juden beleidigt, aber auch weil sie Paulus widerspricht.
Nun sind dies christliche Positionierungen von Paulus bis heute. In ihrer Entwicklung wird alles Judenfeindliche – hoffentlich – aus diesem Glauben wegearbeitet. Selbst Paulus im Römerbrief ist in der langen Geschichte seiner Auslegung sicher auch judenfeindlich ausgelegt worden. Nüchtern gesehen kommt es darauf an, mit welchem Interesse Auslegungen betrieben werden. Fromm gesagt: Gottes gegenwärtiges Handeln inspiriert immer auch die Auslegung der Schriften.
Wie aber mögen Jüdinnen und Juden diese Debatte erleben – sofern sie sich ihr überhaupt aussetzen. Das müssen sie gewiss nicht tun. Antisemitismus ist nicht ihr Problem. Es ist die Schuld der Christen. Und sie bleiben natürlich als Christen – solange sie es bleiben wollen – in ihren eigenen Axiomen gefangen. Der „Maßstab“ von allem ist Christus – sicherlich er selbst höchst auslegbar, aber auf jeden Fall mehr als nur eine relative Größe, die zur Diskussion gestellt werden kann. Die Gleichheit aller im Sinne des Gal – Verses gibt es im Bereich des Glaubens an Christus. Und sonst nicht. So Paulus. Und im Rahmen dieser universellen Gleichheit existieren sie natürlich alle in ihren Partikularitäten: Juden und Christen, Frauen und Männer und was sonst noch. Und sind doch eins als Abrahams Nachkommen „in Christus“. Ein Trennung gibt es nicht – nicht schon damals! Nicht bei Paulus.
Jüdinnen und Juden werden, so denke ich, diese christlichen Diskussionen gerne zur Kenntnis nehmen, aber sich letztendlich natürlich der Inklusion ins Christliche verweigern. Und weil das so ist, werden Christen ihre Sprache aufweichen: Niemand redet mehr von Verworfenheit oder Ungehorsam. Und das ist dann wohl auch gut so. Obwohl sich auf diese Weise das Christliche in allgemeine Haltungen des Wohlwollens gegenüber Juden auflösen kann, die zutiefst unverbindlich sind. Wäre es nicht besser zumindest auch in Bezug auf Christus das Partikulare seiner Existenz zu betonen – seiner Existenz als Jude mithin? Christen glauben, so wenig wie Juden, an ethische Prinzipien oder rationale Axiome, sondern an Gott, der konkret war und ist.
10 Natan Sznaider, 143.
11 Text aus der Rev. Lutherübersetzung von 2017.
12 Ernst Käsemann: An die Römer. Tübingen 1973, 306.
Fazit
Was ich sagen will: Es gibt keinen Weg, sich der konkreten Herausforderung der Existenz Israels und des Lebens der Jüdinnen und Juden in Deutschland zu entziehen. Die Unversehrtheit dieses Staates und dieses Lebens ist bedroht wie lange nicht mehr. Konkreter Antisemitismus wird von Jüdinnen und Juden erlebt und führt dazu, dass sie sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Solidarität wird vermisst. Dem hilft das Beschwören von Humanität, Liberalität und Demokratie nicht ab, sondern nur konkretes Handeln gegen Antisemitismus und für Israel. Wo etwas in dieser Richtung auftaucht, sollte es umgehend symbolisch zerschlagen werden.
Was mich besonders betroffen gemacht hat ist die erwähnte Tatsache, dass man offensichtlich gegen Rassismus und dennoch zugleich Antisemit sein kann. Man kann sich auch für Jüdinnen und Juden einsetzen – und zugleich offen rassistisch gegen Muslime vorgehen. Vieles geht zusammen, was sich eigentlich widerspricht. Dahinter stehen „Mindsets“, die sich in egozentrierten „Wolken“ herausbilden und nichts mehr an sich rankommen lassen. Aber das ist nichts Neues. Natan Sznaider berichtet von einem berühmten Interview von Günter Gaus mit Gustav Gründgens 1963. Angesprochen auf die Nazizeit erzählt der große Schauspieler und Intendant: „Ein Zeit, die für mich trotz allem, was ich täglich und praktisch zu tun hatte, so wenig Realität besaß, dass ich eines Tages mit meiner Frau in meinem Garten saß und sagte: ‚Mein Gott, Marianne, stell dir mal vor, wir säßen wirklich hier, und ich wäre wirklich Intendant des Staatstheaters und ich spielte wirklich den Hamlet. Wär das nicht wunderbar?‘“13 Es diese Art der Wirklichkeitsverleugnung, die letztlich auch Juden- und Israelhass produziert.
13 Natan Sznaider, 121.