Von wegen Niedergang: Die Kirche auf dem Weg zur Sozialreligion

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Von wegen Niedergang: Die Kirche auf dem Weg zur Sozialreligion

Der Niedergang der Evangelischen Kirche in den letzten Jahren kann kaum bestritten werden. Die höchsten Mitgliederverluste (2,5% in 2021) und dramatische Resonanzverluste in der Öffentlichkeit während der Corona Zeit sprechen eine deutliche Sprache. Allerdings muss man genau hinsehen: die Schwäche der Kirche liegt in ihrem religiösen Bereich.

Schaut man aber auf ihre sozialen Aktivitäten, auf ehrenamtliches Engagement im Bereich der Willkommenskultur oder vor allem ihrer Diakonie, dann sieht es völlig anders aus. Während die Kirche schrumpft, expandieren ihre sozialen Dienste. Im Osten Deutschlands liegen die Zahlen der Mitarbeitenden der Diakonie mittlerweile bei dem drei- bis vierfachen der Kirche.

Petra – Angela Ahrens vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD kann empirisch belegen, dass das Interesse der Kirchenmitglieder an sozialer Kommunikation größer ist als an religiöser. Manche diskutieren deswegen ob sich nicht die alte Prognose von Friedrich Fürstenberg (zuerst um 1982) nun einlösen würde: die christliche Religion transformiere sich in eine Sozialreligion. Ihre klassischen transzendentalen Glaubenssätze fungierten nur mehr als Hintergrundlegitimation eines innerweltlichen Heilsprogramms, das sich im sozialen Aktivismus umsetzte.

Lässt sich das belegen? Für das Jahr 2021 legt sich ein Test auf diese These nahe, indem man einen Blick auf drei wichtige Publikationen der EKD zum Bereich sozialer Verantwortung wirft. Zum einen dem Grundlagentext: „Vielfalt und Gemeinsinn. Der Beitrag der evangelischen Kirche zu Freiheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt“ (Leipzig 2021) und dann die EKD Texte: „Bezahlbar wohnen. Anstöße zur gerechten Gestaltung des Wohnungsmarktes im Spannungsfeld sozialer, ökologischer und ökonomischer Verantwortung“ (Nr. 136) und „Einander-Nächste-Sein. Leitbilder des Sozialstaates am Beispiel Inklusion und Pflege.“ (Nr. 139).

Am konkretesten sind die Vorschläge zur Überwindung der Wohnungsknappheit, wobei es von vornherein als öffentliche Aufgabe angesehen wird, jederzeit bezahlbaren Wohnraum anbieten zu können. Spekulativen Tendenzen müsse staatlich gewehrt und Machtkonzentrationen großer Konzerne verhindert werden. Konstatiert wird ein Trilemma zwischen notwendiger Preisdämpfung, ökologisch bedenklicher intensiverer Nutzung des Bodens und der Rentabilität des Bauens. Rein marktwirtschaftlich sei dieses Problem nicht zu lösen: die Sozialpflichtigkeit gerade des Eigentums an Grund und Boden müsse stärker zum Tragen kommen. Erst als letztes Mittel kämen aber Eingriffe in die Preisgestaltung infrage.

Leitbilder des Sozialstaates

Die ordnungspolitischen Implikationen solcher Stellungnahmen entfaltet der Text über „Leitbilder des Sozialstaats“. Er stellt den Sozialstaat als eine korporative Aushandlungspraxis auf der Basis einer subsidiären Struktur dar, in der Menschenwürde und die Entfaltung der Persönlichkeit die Referenzorientierungen bilden. Dieses Modell habe sich in den großen Krisen der letzten Zeit bewährt. In ihm institutionalisiere sich eine soziale Praxis, der höchste Würde zukomme: „Das prosoziale Handeln ist Dienst an Gott selbst. Der christliche Glaube bietet somit aus sich selbst heraus ein prosoziales Weltbild an, in dem die empirisch nicht ableitbare Würde des Menschen aus seiner transzendentalen „Anerkennung“ durch Gott heraus erwächst und nicht in der Verfügung der Mensch liegt.“ Seine Freiheit ruhe in seinen sozialen Beziehungen: Individualität und Sozialität müssen als gleichursprünglich angesehen werden. Dabei sei ein unterstützungsbedürftiger Mensch kein Objekt der Hilfe.

Soziale Sicherheit resultiere aus öffentlichen Gütern und könne deswegen letztlich nicht privatisiert werden. Wirtschaftliches Effizienzdenken müsse in normative Grundlagen eingebettet sein. Was das bedeutet wird an zwei Feldern: dem Bundesteilhabegesetz und der Pflege erörtert. So werden flächendeckende Tarifbindungen ebenso eingefordert, wie die Regulierung von privaten Erträgen im Sozialbereich: Gewinne könnten Einzelnen nur dann zukommen, wenn diese auch in das „Vertrauenskapital“ der gesamtgesellschaftlichen Kooperation einzahlten. Wettbewerb in der Sozialwirtschaft sei aber im Interesse von Effizienz und Innovation zu begrüßen. Er müsse gemeinwohlorientiert gesteuert werden.

Vielfalt und Gemeinsinn

Fragt man grundsätzlicher nach den Grundlagen der EKD Positionierungen, so stößt man auf „Vielfalt und Gemeinsinn“. Ihr geht es darum, den Beitrag des Christentums zur Integration pluraler, freiheitlicher Gesellschaften herauszuarbeiten. Der Weg dazu führt – durch wahrhafte Eiswüsten der Abstraktion – zu einem christlichem Ethos als Ressource öffentlicher Verantwortung: „Dazu gehören symbolische Aspekte wie die Anmutungen des Besonderen bis hin zum Heiligen, des großen Glauben bis zum Transzendenten, das Aufgehobensein der vielen einzelnen Lebensgeschichten im Gesamt des Lebens.“ So das „Doppelgebot der Liebe“. „Die besondere Ressource des christlichen Glaubens besteht darin, einen verbindenden Rahmen vorzugeben, ohne individuell vielfältige Positionierungen zu regulieren.“ Und der Inhalt? Das sei „Die durch Jesu Predigt vom Reich Gottes ausgelöste Neugier und die Faszination an einem Zusammenleben als Kinder Gottes, die alles Handeln auf das Ziel der besseren Gerechtigkeit orientiert und sich nie mit dem Vorhandenen abgibt.“ Näherhin der Einsatz für die Armen, für Gewaltfreiheit, Feindesliebe, Vergebung und ein neues Leben durch den Tod hindurch.

Im Zentrum steht die Auffassung, „dass die Kirche ‚als Kirche‘ nach wie vor über die in ihr gelebte und in ihr vertretene Symbolkraft ethischer Überzeugungen, über ihre moralische Glaubwürdigkeit, die sich aus der Übereinstimmung von normativen Prinzipien und tatsächlichem Handeln ergibt, definiert wird.“ Dabei verkörpere sich der Kern der Kirche im Gottesdienst. Dabei möge man aber nicht primär an den „ritualisierten Zehn-Uhr-Gottesdienst am Sonntagmorgen denken“ sondern an Gottesdienst im „weitestmöglichen“, ja im „weitest denkbaren“ Sinn, als gelebtem Glaube im Alltag. Immerhin bleibt es dabei, dass Gottesdienst eine gemeinsame Hinwendung zu Gott sei, ein „Zu-Sich -Kommen und Aus-Sich-Heraus geführt werden“, aber “wo und wann auch immer, in welcher Form und Gestalt auch immer.“ Wer hier vermutet, dass sich das kirchlich Institutionelle auflösen soll, liegt wohl nicht falsch. Es transformiert sich in ein diakonischen Hilfehandeln, wo es um „eine sich riskierende Ausrichtung auf die andere Person, und zwar nicht nur da, wo Hilfe bequem zu leisten“ sei, gehe. „Sie fordert im Selbstanspruch, mehr zu zeigen als Solidarität unter Gleichgesinnten“.

Soziale Ressource

Während der Sozialstaat Text ein eher klassisches christliches Verständnis vertritt, in dem soziales Handeln als Folge des Glaubens – nicht als sein Ersatz – diskutiert wird, tendiert „Vielfalt und Gemeinsinn“ klar zur Sozialreligion. Wahrer Gottesdienst sei Einsatz für die Leidenden. Der Glaube verwandelt sich in eine soziale Ressource. Friedrich Fürstenberg warnte seinerzeit: Sozialreligion würde faktisch kaum mehr als eine Rechtfertigung säkularer Strukturen sein. Da ist sicherlich etwas dran, insofern religiös-symbolisches Handeln an den Rand gedrängt wird. Aber andererseits geht der universalistische Anspruch nicht im Säkularen auf. Das Christentum wirkt als Stachel im Fleisch korporatistischer Aushandlungen sozialer Leistungen potenziell öffnend. Nicht die schlechteste Perspektive einer Transformation der Kirche!

Literatur

Fürstenberg, Friedrich (1982), Der Trend zur Sozialreligion, in: Gemper, B.B. (Hrsg.), Religion und Verantwortung als Elemente gesellschaftlicher Ordnung, Siegen: Vorländer, 271-284.