Begabt, vergnügt, befreit
Begabt, vergnügt, befreit – Evangelische Kitas für Kinder, Gesellschaft und Kirche
Beitrag im Durchblick 2021 von Prof. Dr. Gerhard Wegner und Doris Wegner
Immer mehr Kinder verbringen ihre ersten Lebensjahre nicht mehr überwiegend im Kontext ihrer Familie, sondern in entsprechenden Kindertagestätten, die bereits früh im Leben gute Betreuung und Bildung sichern sollen. Seit 2013 haben Kinder darauf einen Rechtsanspruch. Im Jahr 2020 gab es laut Statistischem Bundesamt etwa 3,75 Mio. Plätze, womit im Bereich der 3- bis 6-jährigen Kinder eine Betreuungsquote von 92,5 % erreicht wird. Bei jüngeren Kindern liegt sie bisher nur bei 35 %, was deswegen einen beträchtlichen weiteren Ausbau erfordert. Parallel zu dieser Entwicklung steigen die Ansprüche an die Qualität der Einrichtungen laufend weiter.
Treffend lässt sich davon reden, dass die Kitas in erhöhtem Maß „Chancengeber“ für den weiteren Lebensweg der Kinder seien. Sie füllen nicht mehr Lücken einer vorausgesetzten familiären Regelbetreuung (wie früher in Westdeutschland) aus, sondern sind zu einem vollgültigen Teil des Bildungssystems geworden, das allen Kindern von Anfang an zugutekommen soll. Mehr oder minder wird der Besuch deswegen auch von allen erwartet. So sind sie in den vergangenen Jahren noch prägender zu „Gärten der Entwicklung für Kinder“ (Friedrich Fröbel, 1840) geworden.
Etwa 16 % der Kitas werden von der evangelischen und 17 % von der katholischen Kirche getragen. Das bedeutet: Ein Drittel aller Kitas in Deutschland ist ausdrücklich christlich ausgerichtet. Allein evangelischerseits wurden im Jahr 2018 etwa 116.000 Personen (97.600 davon als pädagogisches Personal) in ihnen beschäftigt, und die Kirchen bringen je nach Bundesland zwischen 10 % und 25 % der Betriebs- und Personalkosten selbst auf. Innerhalb der kirchlichen Arbeit insgesamt nehmen Kitas und andere Aktivitäten im Bereich der frühen Bildung einen deutlichen Schwerpunkt ein.
Die Kirchen engagieren sich folglich beträchtlich für die Kinder. Das war schon immer so, gewinnt aber durch die gestiegene Bedeutung der frühen institutionellen Kinderbetreuung und Bildung an systematischem Gewicht für die ganze Gesellschaft. Während die Kirchen in anderen Bereichen an Bedeutung verlieren und Mitgliederverluste hinnehmen müssen, lässt sich hier ein gegenteiliger Trend beobachten. Sie übernehmen wichtige Aufgaben für die ganze Gesellschaft und werden deswegen auch von den Kommunen entsprechend unterstützt.
Evangelische Kitas sind offen für alle Kinder – egal aus welcher Religion sie kommen und mit welchem Hintergrund sie aufwachsen. Jedes Kind wird in seiner Einmaligkeit – als Geschöpf Gottes – mit seiner eigenen Würde geachtet und gefördert. Qualitätsstandards, was die Ausstattung der Einrichtung und die Kompetenzen des Personals anbetrifft, werden ernst genommen, wie in anderen „säkularen“ Kitas auch. Dem Personal werden regelmäßig Fortbildungsangebote gemacht, und die Kitas sind im Gemeinwesen vernetzt, insbesondere mit einer Kirchengemeinde. Kooperation mit den Familien, bis hin zu besonderen Angeboten für sie, werden großgeschrieben.
Eltern können sich darauf verlassen, dass ihre Kinder in einer evangelischen Kita genauso gut aufwachsen können wie in jeder anderen auch. Gesetzliche Vorgaben und andere Regeln gelten für alle Kitas, ganz gleich wer sie betreibt. Und dass muss auch so sein.
Also auf der einen Seite alles wie bei allen. Die Kirche schafft in ihren Einrichtungen keine sektiererischen Sonderwelten, sondern erbringt ihren Anteil am gemeinsamen Erziehungsauftrag aller. Dennoch tut sie dies als Kirche und damit in Erfüllung ihres christlichen Gesamtauftrags. Sie ist kein Verein, der sich qua Mehrheitsbeschlüsse beliebige Aufgaben geben kann, sondern lebt selbst aus christlichem Glauben und vertritt ihn in der Gesellschaft – so auch mit ihren Kitas. Sie sind in der Sicht der Kirche Teil des umfassenden christlichen Bildungsauftrags, den es seit Beginn der Kirche gibt.
Daraus erwächst das evangelische Profil der Einrichtung: das Ziel, Kinder in ihrer Zeit in der Kita mit Grunderfahrungen des christlichen Glaubens in Berührung kommen zu lassen. Allerdings natürlich in aller Freiheit – ohne Zwang oder Manipulation. Mithin gilt: Wer sein Kind in einer evangelischen Kita anmeldet, möge sich überlegen, ob es in irgendeiner Weise qualifiziert mit Gott aufwachsen lernen soll – jedenfalls von ihm erfährt. Wer das nicht möchte, der orientiere sich besser in eine andere Richtung. Da ein Hineinwachsen des Kindes in den Glauben auch Anfragen an seine Eltern mit sich bringen kann, braucht es eine bewusste Entscheidung für die Anmeldung in der evangelischen Kita.
Das klingt nun allerdings fordernder, als es ist. Denn bei christlich-religiösen Grunderfahrungen handelt es sich nicht um irgendwelche spinnerten Seltsamkeiten oder gar um schwarze Pädagogik, sondern um die Einübung in „Glaube, Liebe und Hoffnung“ als Grundwerte eines jeden Lebens, wie es in der Bibel immer wieder deutlich wird. Was ist damit genau gemeint? Ganz elementar geht es um die Einführung in biblische Geschichten als Urkunden des Glaubens, um das Feiern religiöser Feste wie Ostern und Weihnachten in ihrer ursprünglichen Bedeutung und das Kennenlernen von religiösen Übungen wie Beten oder das Singen von christlichen Liedern und die Eingewöhnung in Gottesdienste. Früher wurden solche Kenntnisse und Fähigkeiten ganz selbstverständlich in den Familien weitergegeben – heute ist das jedoch seltener der Fall.
Es ist gut, Kinder früh im Leben mit Religion in Berührung zu bringen, damit sie sich zwanglos eine entsprechende Einstellung zur Welt und zum Leben insgesamt aneignen können und in Religion sozusagen kompetent werden können. Das „beginnt mit Grunderfahrungen von Angenommensein und Geborgenheit, Zuwendung und Liebe, Freude, Schutz und Vertrauen. Der Umgang mit Angst, Fremdsein, Hilflosigkeit und Verlassensein wird eingeübt.“ (EKD 2020) Sehr schön heißt es weiter: „Kinder probieren die großen Erzählungen der Menschenfreundlichkeit Gottes an wie Kleider; sie prüfen, ob sie passen, ob sie wärmen, schützen und trösten… Dabei zeigt sich immer wieder, dass Kinder Theologinnen und Theologen in eigener Sache sind und souverän und neugierig mit … religiösen Prägungen umgehen.“ (EKD 2020) Freude und Schmerz, richtiges und falsches Verhalten, Tun und Lassen, Leben und Tod: Alles kommt vor und kann als eingebettet in die Liebe Gottes zu den Kindern erfahren werden.
Im Mittelpunkt religiöser Erziehung in den Kitas steht so das Erleben der Menschenfreundlichkeit Gottes, der in Jesus Christus gesagt hat, dass die Kinder zu ihm kommen sollen, denn ihnen gehöre das Reich Gottes (Mt. 9, 14). Jedes Kind ist ein Geschenk Gottes an die Welt und kann sich selbst genau so erfahren: Ich bin mit mir selbst von Gott beschenkt, so wie alle anderen auch! Was für eine großartige Grundlage für ein Leben! Ich habe viele Gaben und kann sie entwickeln, kann selbst etwas bewirken und mich „entfalten“: mich selbst geradezu „ausfalten“ und ins Leben fliegen – nicht weil ich so supertoll bin, sondern weil Gott an meiner Seite steht. „Du kannst zu den Sternen fliegen, am Orion vorbei, im Marianengraben tauchen, fühl dich frei: Ich bin für immer dein Freund!“ („Universum“ von „Ich und Ich“). Eben: begabt, vergnügt, befreit, wie man treffend in leichter Änderung eines Textes von Hanns Dieter Hüsch sagen kann.
Das ist alles in allem nichts anderes als Befähigung, Bevollmächtigung, Empowerment. Ich bin unendlich viel wert. Aber dieser Wert erwächst nicht aus eigener Kraft, steht nicht im Gegensatz zu anderen und beruht nicht auf der Durchsetzung meines Egos, sondern ist ein Geschenk Gottes und bleibt erhalten, auch wenn ich eines Tages entdecke, dass ich gar nicht so großartig bin, wie ich oft glaube. Solche Einstellungen haben auch Folgen für das allgemeine Zusammenleben der Menschen. So hat der große amerikanische Sozialphilosoph John Rawls diese Grundhaltung zum Leben einmal so beschrieben: „Man hat seinen Platz in der Verteilung der natürlichen Gaben ebenso wenig verdient wie seine Ausgangsposition in der Gesellschaft … Der Begriff des Verdienstes ist hier nicht am Platze.“ Kein Kind ist mehr wert als ein anderes, und diejenigen, die Unterstützung brauchen, bekommen sie auch. Jedes Kind gehört dazu und hat einen Platz. Das evangelische Profil beschreibt folglich eine Vision: eine ermutigende und befreiende Vorstellung eines zutiefst menschlichen Zusammenlebens.
Viele werden zustimmen, dass dies alles Grundhaltungen sind, die auch sonst im Bildungswesen und in der Gesellschaft gelten (sollen). Nach wie vor steckt zum Glück viel Christliches in unserer Kultur. Aber es pflanzt sich nicht von selbst fort. Der reine Kult ums Ego, die Ego-Kultur, bedroht immer wieder Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Die Kirche bleibt dabei, dass eine befreite und gerechte Gesellschaft einer Rückverankerung im Glauben an Gott bedarf – und zwar an den Gott, der in Jesus Christus Mensch geworden ist. Diese Einstellung setzt sie auch in ihren Kindergärten um und bemüht sich, Kinder früh an sie heranzuführen. Würde man das unterlassen, dann würde der christliche Glaube bald aussterben. Es ist mithin etwas Besonderes, Überschießendes, das die evangelischen Kitas zu bieten haben. Allein schon deswegen lohnt es sich, sein Kind dort anzumelden.
Zitate:
EKD 2020 = Kinder in die Mitte! Evangelische Kindertagesstätten:
Bildung von Anfang an. Eine Handreichung des Rates der EKD, hg. von der EKD, Leipzig 2020, S. 48 und S. 53
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975, S. 125.
Prof. Dr. Gerhard Wegner
Pastor i. R. und Publizist, bis 2019 Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD und lebt in Coppenbrügge / www.gerhardwegner.de
Doris Wegner
Diplom-Pädagogin, war bis 2017 Schulleiterin für die Ausbildung in sozialpädadogischen und pflegerischen Berufen bei „Bethel im Norden“