Keine Gerechtigkeit ohne eine Auferstehung der Toten!

Keine Gerechtigkeit ohne eine Auferstehung der Toten!

Ohne den Glauben an die Auferstehung der Toten ist all unser Glaube umsonst, so sagt es ganz eindeutig der Apostel (1. Kor. 15, 12 ff). Glauben wir ihm das eigentlich noch? Die Vorstellung sprengt unsere Vorstellungskraft – verschiebt den Rahmen unserer Wirklichkeit. Wenn das stimmt, dann wäre mit einer Transformation zu rechnen, gegen die alle Katastrophen der Welt ein Klacks gewesen wären. Das gesamte, in Jahrtausenden angehäufte Leid der Welt wäre nicht verschwunden. Es würde sichtbar werden und sich zu Wort melden. Millionen Getöteter stünden vor uns und sähen uns an – Opfer der Gewalt, der Kriege, der Ausbeutung. Niemand wäre vergessen. Vielleicht auch nicht das Leid der Tiere? Die 18 Millionen Nerze, die in Dänemark getötet wurden, weil sie als Corona-Überträger galten? Und, und, und … Die Vorstellung ist kaum zu ertragen! Am ehesten entspricht dem noch die unglaubliche Vision Ezechiels von der Auferweckung der Totengebeine (Ez. 37).

Eigentlich gilt: Die Toten sind tot – mit ihnen brauchen wir nicht mehr rechnen. Ein Glück – was könnte da alles wieder hochkommen, wenn sie noch leben würden! Obwohl: So sicher kann man sich da gar nicht sein. Jede Familienaufstellung belegt doch nur allzu deutlich, dass unsere Toten noch leben. So ist ein Zeitraum von etwa 100 Jahren zurück durchaus noch präsent und des Streites um seine Deutung wert. Gerne schiebt man dann da einen Sinn durch Unterstellung von Entwicklung, Evolution hinein. Das Leben der Toten hätte Sinn als Teil einer Abfolge gehabt, an deren Spitze wir nun stehen. Etwas arrogant klingt das ja schon. Unsere Ahnen hätten sich demgemäß für uns geopfert. Wir sollten sie deswegen in Ehren halten. Aber tot bleiben sie. Wehe, wenn sie einen Teil am Kuchen heute einfordern würden. Andererseits opfern wir uns selbst dann auch wieder. Allerdings ist die Frage danach, für was und für wen wir uns opfern, heute kaum noch zu beantworten. Nicht selten wird man ja das Gefühl nicht los, dass sich diese Generation für die letzte hält. Ob dann noch etwas kommt, ist völlig offen und auch nicht wirklich wichtig. Die Millionen von Corona-Toten bewegen ja auch kaum jemanden. Mit dem Tod ist alles vorbei – nur das Hier und Heute zählt.

Dabei ahnen wir allerdings, dass da etwas nicht stimmt. Genauer gesagt: Da fehlt etwas. Empathie würde man sagen – Mitgefühl mit den Leidenden. Das zeichnet nach unseren Vorstellungen ein menschliches Leben aus. Es kann doch nicht sein, dass wir auf Bergen von Toten und Getöteten fröhlich unser Leben führen! Das geht nicht im unmittelbaren Umfeld – da sind wir uns schnell einig. Aber es geht eigentlich auch nicht in großer historischer Perspektive. Und zwar nicht aus Sentimentalität, sondern aus harten Gründen der Gerechtigkeit. Wobei die entsprechenden Fragen ja fast absurd klingen: Warum konnten so viele in Krieg und Holocaust getötete Menschen nach 1945 nicht am wachsenden Wohlstand teilhaben? Oder noch drastischer: Warum ging es den Tätern – z.B. Mitgliedern der Waffen-SS – zwei Jahre nach Kriegsende wesentlich besser als den überlebenden Opfern (wie eine damalige US-Studie zeigen konnte)? Oder noch weitergesponnen: Warum konnten unsere Nazi-Eltern überhaupt weiter Kinder – uns nämlich – bekommen? Sieht man die Dinge so, dann ist Gerechtigkeit schlicht überhaupt nicht vorstellbar, Versöhnung undenkbar. Angesichts der menschlichen Geschichte, brutal, wie sie nun einmal war, bleiben nur Trostlosigkeit und Verzweiflung. Unser Lebensglück ist hohl. Es beruht fundamental auf Verdrängung.

Das aber bedeutet: Es braucht die Auferstehung der Toten! Um der Menschlichkeit der Menschen; ja um der Gerechtigkeit willen müssen die Toten wieder leben. Nur dann wären sie – und damit wir alle – vor der endgültigen Vernichtung bewahrt. Nur dann kann man überhaupt von der Wirklichkeit substantieller Gerechtigkeit sprechen, da sie ohne den Blick in die Gesichter der Getöteten nicht sein kann. Es ist nicht nur die Erinnerung an längst vergangene Menschen, sondern das Aufleuchten ihres Antlitzes, ihrer Blicke, vor dem sich die Logik der Entwicklung rechtfertigen muss. Darüber geht jede Evolutionstheorie hinweg und erweist sich damit als im Kern gewalttätig. Aber es ist die Praxis Jesu Christi, in der diese alles überwältigende Humanität Gottes ihre Wirklichkeit hat.

Gerhard Wegner ist Vorsitzender des Niedersächsischen Bundes für Freie Erwachsenenbildung, Publizist, Pastor i.R. und war bis Ende 2019 Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts (SI) der EKD.