Jeder stirbt für sich allein
Jeder stirbt für sich allein
Seit Corona die Kirchen auf eine harte Probe stellt, ist eine Debatte über ihre Nutzlosigkeit entbrannt. Wie überflüssig sind sie wirklich?
Das Virus macht endgültig deutlich, wie nutzlos die Kirchen mittlerweile geworden sind. Religiös Hilfreiches zur Bewältigung der Krise war von ihnen nicht zu hören. Gleich zu Beginn der Pandemie haben es die Bischöfe auf den Punkt gebracht: Gott habe mit Covid-19 nichts zu tun. Damit schossen sie sich selbst aus allen Debatten zur Bewältigung der Krise raus. Hätten sie andere Möglichkeiten gehabt?
Jahrhundertelang ist Gott auch das Böse zugerechnet und so die Wirklichkeit intakt gehalten worden. Aber dafür braucht es heute Gott nicht mehr. Maria Sinnemann vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat erst vor kurzem zeigen können, dass nur bei stärker der Kirche verbundenen Menschen Religiosität im Angesicht des Virus überhaupt irgendwie resilienzstärkend wirkt. Für die große Mehrheit der Menschen zählen eher Faktoren wie Optimismus, Selbstwertgefühl, gute Freunde.
Auch jenseits religiöser Deutungen überrascht angesichts von bisher zwei Millionen Corona-Toten weltweit und vierzigtausend in Deutschland das Fehlen öffentlicher Trauer. Jeder und jede stirbt für sich allein. Sollten die Kirchen nicht stellvertretend für alle jeden Freitagabend überall Totenwachen abhalten? Bisher gibt es bei jeder Katastrophe zentrale, oft von den Kirchen initiierte, gottesdienstähnliche Feiern für und mit allen. Sie nehmen damit zivilreligiöse Funktionen wahr, die sozialpsychologisch für die Krisenbewältigung der ganzen Gesellschaft wichtig sind. Aber davon ist nichts zu sehen. Stattdessen konzentriert man sich auf geistliche Digitalangebote für die Gemeinde.
Folglich stimmt es: Corona liefert den endgültigen Beweis des Übergangs der Kirchen in die Nutzlosigkeit – oder noch schärfer mit Peter Sloterdijk in seinem neuen Opus „Den Himmel zum Sprechen bringen“ gesagt: in die „virtuelle Asozialität“. Johann Hinrich Claussen, der Kulturbeauftragte der EKD, fand das passend, um das Schweigen der Kirchen zu rechtfertigen: Für die Pandemie seien Medizin und der Staat verantwortlich. Es wäre der Weg „in die Freiheit der Religion selbst, ihre Entlastung von sekundären Funktionen, der Befreiung zu sich selbst, ihrem genuinen Zweck“. Nicht mehr Staatsüberhöhung, Erntefeier, Sexualitätslenkung und was noch mehr.
Konfessionslos glücklich sein? Das kann man längst
Neu sind solche Thesen nicht. Schon 1976 formulierte Oskar Negt zitierfähig: „Erst getrennt von allen Stützen der staatlichen Gewalt und Macht könnte sich erweisen, worin die Substanz und der Wahrheitsgehalt des Christentums tatsächlich bestehen.“ Tatsächlich wäre dies die völlige Privatisierung der Religion. Die Auslegung der Existenz bliebe ihre Aufgabe, so auch Sloterdijk. Aber ist das möglich ohne irgendwelche Folgen für die Gesellschaft? Sofern es noch eine christliche Kirche gibt, in der sich Menschen zusammentun, wird sie sozialen und kulturellen Platz reklamieren – auch Diakonie und Caritas treiben, wenn auch vielleicht in anderen Formen als heute. Nutzlos kann sie folglich gar nicht wirklich werden. Aber weil alles auch ohne sie funktioniert – und funktionieren muss –, wäre sie sozusagen objektiv überflüssig. Das aber ist schon jetzt der Fall. Sloterdijks aufgelistete sekundäre Funktionen sind uralte Hüte. Längst kann man konfessionslos glücklich sein. Aus gesellschaftlicher Funktionserfüllung lässt sich Religion und Kirche schon lange nur noch restweise begründen.
Soziologisch lässt sich eine solche These gut nachvollziehen: Es ist die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die den Nutzen der Religion für andere Felder als sie selbst einengt. Immer weniger wird sie in Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft angefragt, weil sie dort bestenfalls Verwirrung stiftet. In dem wohl besten religionssoziologischen Buch der letzten Jahre, „Religion in der Moderne“, zeigen Gergely Rosta und Detlef Pollack, warum es völlig falsch wäre, in dieser Situation Religion als nützlich anzubieten. „Die absichtslose, nur um ihrer selbst willen erfolgende Verinnerlichung ihrer Sinnformen ist (. . .) eine wichtige Voraussetzung ihrer Wirksamkeit.“ Eine Antwort auf die Frage, warum man sich auf sie einlassen soll, muss deswegen offenbleiben.
Niklas Luhmann hat ebendies klassisch auf den Punkt gebracht: „Es gibt immer weniger nichtreligiöse Gründe, religiös zu sein.“ Anders gesagt: Man kommt „von außen“ nicht in Religion hinein. Sie löst keine Probleme in der Welt. Die Sündhaftigkeit des Menschen leuchtet nur denjenigen ein, die von ihr erlöst worden sind. Und Gottes Vergebung wird nur dann als nötig empfunden, wenn die Schuld als vor ihm existentiell erfahren wird – meist aber reicht Nachsicht aus, wie Sonja Fücker jüngst in einer großartigen Studie zeigen konnte. Gottes Gnade ist völlig umsonst, „weil man sie gar nicht gebraucht hat und keine Ahnung hatte, was einem fehlen könnte, wenn man sie nicht hat“, wie es Ingolf U. Dalferth theologisch zuspitzt.
Der Machtgewinn des Egos muss nicht das letzte Wort sein
Das aber bedeutet nicht, dass eine derartig selbstreferentielle Religion sinnlos wäre. Im Gegenteil, die in ihr imaginierten Sichtachsen zum Himmel bieten enorme Möglichkeiten, die „Welt von außen“ zu betrachten und das, was in ihr hoch gehandelt wird, in seiner Wertigkeit zu relativieren. Dann muss die Steigerung des eigenen Lebens, der Machtgewinn des Egos oder die totale Vermarktlichung der Welt nicht das Letzte sein. Es entfalten sich grundsätzlich alternative, nicht funktionale Möglichkeiten. Wer auf sie verzichtet, muss letztlich die Welt so hinnehmen, wie sie ist.
Der Vergleich zur Kunst legt sich nahe, und ihn macht auch Sloterdijk auf. Auch Kunst illustriert nicht etwas Vorgegebenes, sondern schenkt zwanglos neue Perspektiven. Paradox gesagt: Religion ist folglich mehr als überflüssig – sie ist überschießend. Und das Virus?
Theologisch ist es eine einzige Versuchung, ein Test darauf, Glaube, Liebe und Hoffnung nicht zu verlieren. Und dies noch einmal dadurch gesteigert, dass es mit allen romantischen Resonanzphantasien aufräumt. Überdeutlich werden die Nacktheit der Christen und ihre schlechthinnige Angewiesenheit auf den Einbruch der Fülle des Lebens. Dem standzuhalten wäre ihr Beitrag zur Bewältigung der Krise.