Religion ist eine Zweitsprache
Religion ist eine Zweitsprache
Wenn Menschen religiös kommunizieren nutzen sie besondere Begriffe, beschreiben ihre Erfahrungen in einem besonderen Licht, betonen bestimmte Aspekte ihrer Welterfahrung und lassen andere aus. Wie dies geschieht, ist in Wissenschaft vielfach beschrieben worden. Deutlich wird immer wieder, dass sich diese Sprache von anderen alltäglichen Sprachen oder natürlich auch von spezifischen Bereichs- oder Wissenschaftssprachen deutlich unterscheidet. Mit ihrer Hilfe gelingt es Situationen, Erfahrungen, Wünsche und Träume in einer für die Transzendenz Gottes offenen Form zu beschreiben. Religiöse Kommunikation ist in dieser Hinsicht stets triangulär angelegt: Sie kommuniziert mit dem anderen Menschen, indem sie sich beständig auf Referenzen außerhalb der alltäglichen, „realen“ Wirklichkeit bezieht.
Insofern stellt Religion eine spezifische Art einer Zweitsprache dar: Sie bezieht sich auf nichts anderes als das, worauf sich auch die alltägliche Erstsprache bezieht aber sie tut dies mit einer anderen Beleuchtung bzw. Tonalität. Insofern muss die religiöse Sprache, will man sie ohne selbst in ihr zu kommunizieren wirklich verstehen, in die erste Sprache übersetzt werden, was allerdings wegen der sehr unterschiedlichen grundsätzlichen Herangehensweisen nicht einfach ist. Es ist schon zwischen den europäischen Sprachen problematisch und wird im Verhältnis zum Beispiel zu den asiatischen Sprachen noch viel schwieriger, ist aber in diesem Fall kaum zu lösen, ohne dass die besondere Leistungsfähigkeit der religiösen Sprache verloren geht.
Vieles, was sich in der religiösen Sprache als evidente Gegebenheiten darstellt erscheint aus Sicht der ersten Sprache bestenfalls eine fiktionale, imaginative Möglichkeit zu sein – die aber beim nüchternen rationalen Gebrauch vollkommen überflüssig, ja lächerlich, erscheint. Tatsächlich aber erweitert die religiöse Sprache das Spektrum der Situationsdeutungen in einem im Grunde nicht abschließbaren und damit faszinierend kreativen Ausmaß. Ein Beispiel: Sportler kennen das Phänomen der besonderen Freisetzung von Adrenalin beim Überschreiten spezifischer Leistungsgrenzen. Der Läufer erlebt dann Situationen, in denen er sozusagen von selbst weiter läuft ohne dass ihm die gesteigerte Anstrengung, die dem zu Grunde liegt, noch besonders ins Bewusstsein käme. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird dieses Phänomen als Adrenalinschub bezeichnet und damit auf einen chemisch physikalischen Vorgang reduziert. Im Grunde genommen wird auf diese Weise diese befreiende, den einzelnen tragenden, ihn faszinierende Erfahrung damit weg erklärt. Es sei dies eben ein ganz natürlicher Vorgang, der unter spezifischen Bedingungen weitgehend verlässlich eintritt und über den darüber hinaus eigentlich nichts weiter zu sagen ist. Das gleiche Phänomen kann aber auch in religiöser Sprache beschrieben werden, zum Beispiel als die Erfahrung der Hand Gottes (Im Fußball: Maradona!), die den Läufer auf den letzten Metern durchs Ziel schiebt. Oder es kann allgemeiner als eine spezifische Gnadenerfahrung erfahren werden, für die es sich ziemt Gott gegenüber dankbar zu sein. Solche Deutungen legen sich religiös nahe, da es hierbei eben nicht um etwas geht, was der Einzelne durch sich selbst herbeiführen kann sondern um etwas, was ihm widerfährt. Derselbe Vorgang wird folglich religiös komplexer akzentuiert und in eine umfassendere Weltdeutung eingebaut als dies in der schlichten physikalisch, vermeintlich rationalen, Erklärungsweise geschieht.
Das Beispiel lässt sich auf viele andere Phänomene ausziehen. So ist es bei religiösen und anderen nichtreligiösen Menschen im Fall einer existenziellen Krise meist so, dass wirkliche Hilfe, in welcher Form auch immer, von anderen Menschen erbracht wird. Die nichtreligiöse Deutung akzentuiert das dann auch auf einer analogen zwischenmenschlichen Ebene als eine humane Hilfeleistung durch jemand anderen. Und dabei bleibt die Deutung der Situation dann auch meist stehen. In religiöser Sicht wird genau dasselbe wahrgenommen, aber der andere der mir geholfen hat, oder die Hilfeleistung selbst als etwas interpretiert was nicht nur in der freien Verfügung des anderen gelegen hat sondern was in der ein oder anderen Weise von Got initiiert wurde. Da kann es dann heißen, dass die andere Person ein Engel gewesen ist und sie selbst kann das, was sie getan hat als etwas absichtsloses erleben, das ihr in der Situation ermöglicht wurde und an dem sie selbst beteiligt war ohne doch letztlich der Urheber gewesen zu sein. Manche Menschen können dann gar nicht sagen warum sie so oder so gehandelt haben. Solche Erfahrungen sind überhaupt nicht selten.
Wieder wird deutlich, dass die Beschreibungsmöglichkeiten der religiösen Sprache viel weitergehender sind als die der alltäglichen Sprache, zumal dann wenn diese alltäglich Sprache vollgepackt ist mit materiell naturwissenschaftlichen Deutungsmöglichkeiten, denen es eigen ist, die Zauber aus der Welt heraus zu definieren. Insofern ist das, was man wissenschaftlich als Fiktion oder eben als Imagination bezeichnen müsste, etwas was die Erfahrungswelt der Menschen umfassender komplexer macht und ihnen größere Handlungsmöglichkeiten einräumt, als dies ansonsten denkbar wäre. Vorausgesetzt natürlich, die religiöse Welt schließt sich nicht von sich aus zu. Mittlerweile ist denn ja auch die Diskussion über die grundlegende Fiktionalität der menschlichen Erfahrung so weit gediehen, dass sie als notwendig für eine reiche Erfahrungswelt von Menschen, insbesondere für die Bewältigung einer stets offenen Zukunft angesehen wird.