Religion

Religion

Die Debatten darüber,  womit man es denn nun genau zu tun bekommt, wenn man den Begriff Religion benutzt, sind unendlich und füllen ganze Bibliotheken. Ohne die spezifischen Interessenlagen zu berücksichtigen, die einzelne Autoren zu ihren jeweiligen Definitionen veranlassen, kommt man überhaupt nicht weiter. Deutlich ist auf jeden Fall, dass der Begriff ganz weit gefasst werden muss, wenn er die gewaltige Vielfalt der Phänomene umfassen soll, die irgendwo in der Welt mit Religion in Verbindung gebracht werden. Meist besteht Einigkeit darüber, dass es bestimmte Erfahrungswelten sind, die mittels irgendeiner transzendentalen Deutung als Religion kenntlich gemacht werden. Was aber genau mit Transzendenz gemeint ist, ist dann schon wieder umstritten. Pragmatischen Konsens gibt es in der Forschung darüber, dass in der Regel nur das als Religion bezeichnet werden soll, was Menschen von sich aus auch so bezeichnen würden, womit zum Beispiel sportliche Rituale generell trotz vieler gegenteiliger Versuche denn doch nicht unter Religion zu fassen wären. Klar ist aber auch, dass es viele Phänomene gibt, die auf der Grenze zur Religion liegen und Elemente des Religiösen in anderen Erfahrungswelten, wie zum Beispiel der Ökonomie oder der Kunst verarbeiten.

Besonders interessant ist in diesem Kontext die Frage, ob sich christlicher Glaube unter den Oberbegriff der Religion subsumieren lassen kann. Immer wieder ist dies insbesondere von theologischer Seite kritisiert worden, obwohl natürlich niemand bestreiten kann, dass zur Praxis aller wesentlichen Formen des christlichen Glaubens Verhaltensweisen und Rituale gehören, von denen herkömmlich angenommen wird, dass sie eine Art Kommunikation mit dem Transzendenten – also Religion – darstellen, wie zum Beispiel ganz fundamental das Gebet. Die Gründe für dieses Bestreiten können zum Beispiel in einer negativen Sicht auf das Phänomen der Religion bestehen – aber auch schlicht damit zusammenhängen, dass man das Genuine des Glaubens nicht unter einen Oberbegriff fassen will, unter dem es dann vergleichbar mit vielen anderen Phänomenen wird. Christlicher Glaube nicht als Religion zu verstehen wäre in dieser Hinsicht eine Art Emanzipationsakt des Christlichen, das sich als eine eigene Realität oder auch als einen eigenen Faktor der Weltbeziehung oder der Weltgestaltung verstehen will.

Ein besonderes Problem gegenwärtiger Debatten scheint mir darin zu bestehen, dass der Religionsbegriff explizit oder implizit auf Glaubensüberzeugungen bezogen wird, in denen die Chiffrierung von Kontingenz als Symbolisierung der Transzendenz artikuliert wird. Wie man es auch dreht und wendet steht damit im Mittelpunkt der in den Blick geratenen religiösen Praxis die Kommunikation mit Gott als solche. Natürlich weist sie verschiedene Dimensionen, Formen und Folgen auf, zu denen auch kulturelles, soziales oder gar politisches Handeln gehören kann, aber ihre Kernkodierung umfasst eine klare Engführung, von der dann vieles sekundär abgeleitet werden kann. Diese Bestimmung von Religion auf christlichen Glauben anzuwenden, bedeutet den Lebenszusammenhang, in dem allein christlicher Glaube tatsächlich gelebt werden kann, im Interesse eindeutiger Definitionen auseinander zu reißen. Das betrifft an erster Stelle, aber mit weitestgehenden Folgen, die Abtrennung  einer so definierten Religion vom prosozialen Handeln. Solches Handeln aber, im Sinne von Nächstenliebe, gehört elementar und nicht nur nach den Zeugnissen der Bibel untrennbar zur Praxis des christlichen Glaubens dazu. Glaube geht nicht ohne Liebe – und das eine ist dem anderen nicht nachgeordnet.

Man kann die Beziehung beider Elemente in eine einseitige Kausalbeziehung packen, der gemäß es der rituell praktizierte Glaube sei, der das soziale Handeln hervorrufe. Bisweilen wird es von der Kirche und ihr folgenden Theologen so gesehen und legitimiert damit die Herrschaft der Kirche über ihre Diakonie. Es ist aber sehr fraglich, ob die wirklichen Beziehungen tatsächlich in dieser Hinsicht als einseitig kausal gesehen werden können. Vieles spricht dafür, dass dieser Beziehungen auch genau andersherum konstruiert werden und auch immer konstruiert wurden. Man denke nur an das berühmte Gleichnis vom Großen Weltgericht, in dem das prosoziale Handeln als das eigentlich religiöse Handeln im Sinne der Begegnung mit Gott interpretiert wird. Auf jeden Fall lassen sich hier keine völlig eindeutigen kausalen Abhängigkeiten konstruieren – wenn überhaupt, dann tritt Religion und prosoziales Handeln im christlichen Glauben immer gemeinsam auf. Oder aber es handelt sich um säkularisierte Fehlformen sozialer Praxis und ebensolche Petrifizierungen religiösen Handelns.

Die Frage ist, warum es heute gerade in den Wissenschaften aber auch in der kirchlichen Praxis immer wieder ein oft hegemoniales Interesse gibt, die Welt der religiösen Erfahrung von prosozialer Praxis zu trennen. Aus kirchlicher Sicht kann dies, wie schon gesagt, mit den Machtkämpfen zwischen Kirche und Diakonie zu tun haben, bei denen in den letzten Jahren die Diakonie einen deutlichen Machtzuwachs und die Kirche einen Niedergang zu verzeichnen hatte. Es kann sich auch eine an dieser Stelle interessante Genderdeutung anbieten, denen gemäß die Aufspaltung eher maskuline Herrschaftsinteressen befriedigt, während die Einheit von Religion und sozialer Praxis weit mehr Formen weiblicher Religion entspricht.

Wie dem auch immer sei: christlicher Glaube umfasst auf jeden Fall weit mehr als das, was herkömmlich als Religion bezeichnet wird. Wo immer er darauf reduziert wird, handelt es sich um eine unzulässige Restkategorie einer ganzen Lebenspraxis.