Der Andere

Der Andere

Agamben, Levinas und andere haben es uns wieder beigebracht: der Andere ist der von Gott und den Menschen Verlassene, der Ausgestoßene, der in den Lagern vernichtet wird. Der andere ist der, dem die Menschen Lebensrecht absprechen, eben weil er so ganz anders ist – oder so zu sein scheint, und dazu gemacht wird. Entweder der andere bedroht tatsächlich die Ordnung der jetzt Lebenden – oder sein Opfer wird benötigt, um diese Ordnung zu konsekrieren. Jede menschliche Ordnung grenzt sich von anderen ab und gewinnt ihre Macht über sich selbst durch die Abgrenzung von anderen, die nicht dazugehören und mehr oder minder praktisch der Vernichtung anheimgestellt werden. Man wünschte, diese anderen wären nicht da sondern eben tot. Der Segen den einen, der Fluch den anderen. Thomas Bernhard hat diese Logik irgendwann einmal ganz wunderbar formuliert mit seinem Satz: „In jedem Wiener steckt ein Massenmörder, aber man darf sich die Laune nicht verderben lassen.“ Ordnung ist folglich immer Spaltung, (was sich im Übrigen in den Praktiken der Verwaltung fortsetzt. Verwaltung ist Herrschaft im Alltag wie Max Weber es so wunderbar formuliert hat.)

Gegen diese anscheinend unausweichliche Realität der menschlichen Ordnung setzt Levinas seine Ethik als Lehrer der Begegnung mit dem anderen Menschen. Seine These ist, dass wir für den anderen durch die Tatsache da sind, dass wir von einem anderen geschaffen worden sind. Mein ich kommt also nur aufgrund dieser Tat in die Welt und ist deswegen von vornherein als auf den anderen bezogen – von ihm hier konstituiert zu sehen. Der, den die Menschen permanent ausgrenzen, Gott, hat mich geschaffen und macht mich auf diese Weise für die anderen verantwortlich. Der andere ist folglich nicht die neutrale dritte Person sondern es ist jener, in dem Gott immer schon da ist. Insofern kann ich zwar den anderen töten, aber ich kann nicht sein Antlitz töten, wie es Levinas formuliert, der in diesem Antlitz bildet sich die Schönheit Gottes ab.

All dies lässt sich auf das Christusgeschehen übertragen. Die andere, aus der menschlichen Ordnung ausgegrenzte, ist der Jesus der am Kreuz schreit. Er wird aus der Stadt heraus gedrängt und als ein Bedroher und Zerstörer, als „Ungeziefer“ brutal hingerichtet. Noch die Art seiner Hinrichtung soll deutlich machen, dass er von Gott und den Menschen verlassen ist. Jeder Umgang mit ihm ist zu vermeiden, jede Berührung kann ansteckend sein. Golgatha ist das exemplarische Vernichtungslager, wies es das in der Geschichte immer wieder gegeben hat. Golgatha ist Auschwitz. Und genau an dieser Stelle setzt Gotteshandeln an, indem er diesen total anderen in sein Recht setzt zum Leben wieder auferweckt. Damit sprengt Gottes Handeln alle menschlichen Ordnungen samt ihren so notwendigen Ausgrenzungen und Spaltungen und konstituiert eine umfassende Gemeinschaft, zu der die anderen immer schon dazugehören. Durch den Blick auf dieses Opfer katapultiert sich jede Ordnung in eine existenzielle Krise und bedarf der Erlösung. Wer unter diesen Bedingungen, zum Beispiel durch die Übernahme einer Leitungsaufgabe, besondere Verantwortung trägt, braucht die innere Bereitschaft zu leiden um derjenigen will, die ihm anvertraut sind.

Klaus Dörne hat irgendwo einmal den treffenden Satz geprägt, dass sich in der Begegnung „immer Gegner begegnen“. Er bricht die nicht nur fragile sondern geradezu latent mörderische Alltagsstruktur menschlicher Gemeinschaften durchaus zutreffend runter. Gerade die Netten hassen sich eigentlich. Insofern ist der andere gar nicht der total andere, der am Rande unserer Gemeinschaft lebt, sondern der andere ist schlicht und einfach immer der, der mir gerade begegnet. Er stellt mich durch sein bloßes Selbstsein infrage und zieht deswegen meine Abwehr auf sich. Schon kleinste Gesten oder Blicke können enorme Auswirkungen haben. Insofern ist die Entwicklung einer Kultur des friedlichen Umgangs miteinander, von Zivilisation und Höflichkeit, fundamental. Aber sie reicht nicht aus. Es braucht ein Opfer und das ist auf Golgatha ein für alle Mal erbracht worden.