Liebe

Liebe

Wenn es überhaupt etwas gibt, was wir als unser Ureigenstes, Authentisches ansehen, dann sind es unsere Gefühle der Liebe für andere. Diese Gefühle richten sich auf andere Menschen, die um ihrer selbst willen, so jedenfalls das Ideal, geliebt werden und mit denen wir uns identifizieren. Deren Interessen werden von uns als unserer eigenen begriffen. Man hat es also bei der Liebe mit einer machtvollen Kraft zu tun, die uns mit unserer Zustimmung bestimmt. Und dies wird noch deutlicher, wenn man sich klar macht, dass man selbst diese Liebe nicht in der Hand hat; man kann die Liebe nicht wählen, da sich ihre Bedingungen unserer unmittelbaren Kontrolle entziehen. „Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Sie kommt und geht von einem zum anderen.“ In dieser Hinsicht besteht ihr Höhepunkt in der erotischen Beziehung, in der die Verschmelzung zweier Menschen erfahren werden kann.

In dieser romantisch bis mystischen Erfahrungswelt der Liebe ist die Abkehr von einem christlich religiösen Liebesverständnis längst erfolgt – ja, solche Liebe entfaltet sich geradezu im Gegensatz zu ihr. Was hier gefeiert wird ist geradezu ein psychisch – sozial – kosmologisches Programm, in dem ungewollt zum Ausdruck kommen, gegen die Regeln prosozialen Verhaltens und anderer sozialer Regularien machtlos sein zu scheinen. So wird heute im Rahmen entsprechender erotischer Liebesbeziehungen selbst lustvolle Gewaltstimulanzen zwischen Erwachsenen toleriert. Eine entsprechende Erotik wird als Erlebnis höchster Erfüllung und spontaner Erregung erlebt, die völlig selbstständig alle anderen Verhaltensweisen in der Gesellschaft infrage stellen darf. Es sieht so aus, dass ich meine Liebeserfahrungen deswegen durchaus als einen Ort jenseits der Gesellschaft erleben kann. Jedenfalls lässt sich sehr schön beschreiben, wie Menschen „gelegentlich von einem merkwürdigen irrationalen, krankheitsartigen Verhalten erfasst (zu) werden. Sie heften in pathologischen Maß ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Person und werden in ihrem ganzen Verhalten auffällig und unberechenbar; sie ‚schweben im siebten Himmel‘ oder ‚auf Wolke sieben‘, haben ‚Schmetterlinge im Bauch‘ oder eine „rosarote Brille“ auf und finden für diesen Zustand auch noch Verständnis und Akzeptanz in ihrer Umwelt… Die Betroffenen wollen möglichst immer zusammen sein, verklären und überhöhen den anderen, sind blind für seine Fehler, und nicht nur der ausgewählte Andere, sondern die ganze Welt gewinnt eine neue Färbung und Heiterkeit.“ (Barbara Kuchler / Stefan Beher)

Man könnte nun geradezu sagen, dass gemäß christlich religiösen Verständnis entsprechende Erlebnisse in der Liebe zu Gott gemacht werden können und von daher dann auch die Liebe zum anderen Menschen beleuchtet wird. Wie dies funktioniert hat klassisch paradigmatisch – paradox Martin Luther dargestellt. Da der Mensch völlig aus der Liebe zu Gott heraus lebt, ist er frei zur selbstlosen Liebe für den Nächsten. „Darum soll seine Meinung in allen Werken frei und nur daraufhin ausgerichtet sein, dass er anderen Leuten damit diene und nützlich sei. Nichts anderes soll er sich vornehmen, als, was den anderen nötig ist.“ (These 26). Und noch weit radikaler heißt es dann: „Nun, so will ich einem solchen Vater, der mich mit seinen eigenen, überschwänglichen Gütern so überschüttet hat, umgekehrt frei fröhlich und umsonst tun, was ihm wohlgefällt und meinem Nächsten auch ein Christ werden, wie Christus mir geworden ist und nichts anderes tun, als nur das, was ich sehe, dass es ihm nötig, nützlich und förderlich ist, weil ich doch durch meinen Glauben aller Dinge in Christus genug habe. Siehe, so fließen aus dem Glauben die Liebe und Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, bereitwilliges, fröhliches Leben, um dem Nächsten umsonst zu dienen.“ (These 27) Deswegen, so Luther, ergibt sich, „dass ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und seinem Nächsten. In Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott. Aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und in göttlicher Liebe.“(These 30)

Über diese Sätze Luthers ist viel nachgedacht worden. Auf jeden Fall konstruieren Sie ein völlig anderes Liebesverständnis, als dies der modernen Beziehung zwischen zwei Menschen zu Grunde liegen soll. Liebe ist hier nicht anders als als Triangulation mit Gott als „Mittelwert“ begriffen. Ein modernes Verständnis würde solch eine Beziehung wahrscheijnlich als Entfremdung begreifen. Die Energie der Liebe wird sozusagen über Gott geleitet und dadurch erst wird es möglich die Wünsche und Interessen des anderen tatsächlich wahr- und ernst zu nehmen. Auf die Spitze getrieben hat diese Vorstellung Sören Kierkegaard in seiner großen Studie über das „Leben und Walten der Liebe“. Die entsprechenden Sätze sind markant: „Die weltliche Weisheit meint, die Liebe sei ein Verhältnis zwischen Mensch und Mensch; das Christentum lehrt, dass die Liebe ein Verhältnis zwischen Mensch und Gott und Mensch ist, das heißt das Gott die Zwischenbestimmung ist. Mag ein Liebesverhältnis zwischen zweien oder zwischen mehreren noch so schön gewesen sein; mag all ihre Lust und all ihre Seligkeit in gegenseitiger Aufopferung und Hingebung bestanden haben: wenn Gott oder das Gottesverhältnis ausgelassen wurde, so ist es doch, christlich verstanden, nicht Liebe gewesen, sondern ein Schein von Liebe, durch den man sich gegenseitig betrügt und bezaubert. Denn Gott lieben heißt, in Wahrheit sich selbst lieben; einem anderen Menschen behilflich sein, dass er Gott liebe, heißt ihn lieben; von einem anderen Menschen darin unterstützt werden das man Gott liebe, heißt geliebt werden.“ Kierkegaard steigert diese Thesen dann noch weiter und spitzt zu: „Jeder Mensch ist Gottes Leibeigener; darum darf er nicht einem anderen Menschen zugehören ohne in derselben Liebe Gott anzugehören, und nicht jemanden der Liebe besitzen ohne dass der andere und er selbst in dieser Liebe Gott zugehört.“

Ein solches christliches Liebesverständnis hat Hegel in einer außerordentlich nachhaltigen Weise in seiner Begriffsprägung produktiv aufgehoben, indem er Liebe im Kern als gegenseitige Anerkennung verstanden hat. Hegel fundiert in dieser Hinsicht die Ehe auf der Liebe, fasst aber Liebe selbst anders auf, als es die Romantik tut. Liebe besteht in der sittlichen Anerkennung des anderen. Und dies ist eine Anerkennung, die auf mehr als einem letztlich flüchtigen Gefühl beruht. Sie findet deswegen ihren Höhepunkt in der rechtlichen Institution der Ehe, und manifestiert sich folglich in weltlichen Institutionen, in denen sie sich eine soziale Wirklichkeit gibt. Dabei geht es nicht primär um die Befriedigung der Bedürfnisse der Liebenden sondern um die gemeinsame Verwirklichung von Freiheit: nur durch die Anerkennung des anderen kann ich frei sein (Rahel Jaeggi).