Freiheit

Freiheit

Kein anderer aktueller Soziologe hat die Situation des in die gesellschaftlichen Strukturen nicht nur zutiefst eingebetteten sondern sie durch seine eigene Praxis immer wieder  reproduzierenden Menschens so deutlich herausgearbeitet wie Pierre Bourdieu. Sie können ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit selbst in ihren Intentionen kaum entkommen. Und das gilt nicht erst im Wahrnehmen oder im Handeln sondern bereits in deren Ursprüngen. Die Gesellschaft steckt in den Körpern: „Wem die Strukturen der Welt (…) einverleibt sind, der ist hier unmittelbar, spontan zu Hause und schafft was zu schaffen ist (…) ohne überhaupt nachdenken zu müssen, was und wie.“ (Möhring – Hesse zu Bourdieu). Selbst dann, wenn Menschen aus ihren Verhältnissen glauben ausbrechen zu können, wirken sie daran mit, die ihr Leiden begründenden Verhältnisse in ihrer grundlegenden Struktur zu reproduzieren. Gerade in intimsten Begegnungen, wie der Liebe, setzt sich immer wieder soziale Distinktion als Reproduktion der gesellschaftlichen Klassen durch. In der empirisch grundierten Nachzeichnung dieser Strukturen sind Bourdieu Studien grundlegend und bleiben faszinierend. Auch Kunst und Religion unterliegen den Distinktionsregeln.

Das Menschenbild, dem Bourdieu folgt, sofern man bei ihm überhaupt von einem „Bild“ sprechen kann, ist das eines unter spezifischen Bedingungen seine eigenen Interessen auslebenden Wesens, das sich genau damit diesen Bedingungen anpasst und unterordnet. Lediglich die Wissenschaft würde eine Perspektive bereitstellen, das Ganze zu überschauen und so ein Ort der realen Freiheit bezeichnen – der dieser aber nur deswegen ist, weil er frei ist von der Notwendigkeit sich im weiteren Kampf bewähren zu müssen.  Auf allen gesellschaftlichen Feldern, auch im Bereich von Ethik und Moral, „herrscht stets Kampf, Kampf um Anerkennung, Kampf um eine Position, Kampf um Ressourcen, Kampf um die Durchsetzung einer Klassifikation bzw. richtiger Sichtweise“ (Müller). Mithin sind den Menschen Grenzen ihrer Freiheit gesetzt und deswegen seien ethisch moralische Empfehlungen stets ausgesprochen bescheiden zu konstruieren.

Aber ist damit alles zum Thema menschlicher Freiheit gesagt? Schon oft ist bemerkt worden, dass sich eine solche nicht – ethische Perspektive nur schwer mit christlicher Ethik verträgt. Obwohl es in der Geschichte des Christentums immer wieder grundlegende theologische Positionen gegeben hat, in denen die Unterworfenheit des Menschen unter ihn beherrschende Strukturen und damit das prinzipielle Nicht – Vorhandenseins eines freien Willens behauptet wird. Allerdings geschieht dies in der Regel nur deswegen – oder zumindest vor dem deutlichen Hintergrund -, um die Erlösungstat Gottes besonders deutlich werden zu lassen, indem jede Form des menschlichen Mitwirkung negiert wird. Von daher allerdings erwachsen den sich auf Gott bzw. Christus wirklich einlassenden Menschen dann doch wieder Kräfte, die Freiheit sichtbar werden lassen.

Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie sich religiös Freiheit ergeben kann, findet sich in dem Roman „Kapital“ von John Lanchester. Hier wird die Geschichte von Shahid, einem Mohammedaner erzählt der unter dem Verdacht des Terrorismus in London ins Gefängnis kommt. Dort beginnt der ansonsten kaum Religiöse im Koran zu lesen und religiöse Übungen zu vollziehen. Daraufhin verändert sich seine Wahrnehmung: „Zum ersten Mal seit seiner Verhaftung hatte er das Gefühl, dass er nicht nur jemand war, dem etwas zustieß, der passiv war, mit dem in irgendeiner Form umgesprungen wurde. Nun konnte er selbst entscheiden, was er von dem, was mit ihm geschah, halten sollte. In seinen Gedanken war ein frei. …. Er hatte das Gefühl, dass eigentlich die Vernehmungsbeamten die Gefesselten waren und sie im engen Kreis ihrer eigenen Verdächtigungen gefangen saßen. Das einzige, was sie tun konnten, war, sich zu wiederholen. Er selbst war freier als sie. Es war fast schon lustig. Sie hatten ein Drehbuch, an das sie sich halten mussten. Er war allein – allein vor Allah – aber frei.“

Die Erfahrung leuchtet unmittelbar ein. Durch die Bindung an etwas Drittes, das ein bedeutsameres Gewicht hat als das, was die empirische Situation bestimmt, stellt sich ein Gefühl der überlegenen Freiheit ein. Solche Erfahrungen hat es immer wieder gegeben – viel in der Religion. Aber auch in säkularen Ideologien. Für sich selbst genommen sind sie deswegen in keiner Weise eindeutig. Der Protagonist bei Lanchester ist unschuldig – aber er hätte auch ein Terrorist sein können. Die Hinwendung zu Gott würde auch dann greifen können. Gott mischt sich da nicht ein.

Um dieses Dilemma zu vermeiden lässt sich Freiheit auch gegenteilig begründen: durch Indifferenz. Frei bin ich nur dann, wenn ich mich nicht binde und nach allen Seiten offen bleibe. Ich kann dann durchaus solche Erfahrungen wertschätzen – aber ich mache sie mir selbst nicht zu eigen. Ich bleibe in der Distanz und behalte so meine Souveränität. Das kann sich gut mit Ironie vertragen.