Defizitorientierung

Defizitorientierung

Eine der unangenehmen Seiten des Christentums ist ihre penetrante Defizitorientierung. Es scheint davon zu leben, dass es sich an die Mängel der Welt anhaftet, sie besonders artikuliert und daraus ihre Lebensberechtigung ableitet. Ohne Sünde keine Erlösung, ohne Schwäche keine Ermutigung, ohne Leid kein Trost. Unbestritten ist natürlich, dass es die Mängel der Welt gibt – es gibt sie reichlich. Aber muss man sie immer wieder betonen – gleichsam das memento mori in Permanenz: „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“? Wäre es nicht besser, sich auf das Positive, Starke, Nach Vorne Weisende zu konzentrieren (Nietzsche)und vor allen Erfolge, Kraft, Leistung zu feiern, statt sich stets vorzuhalten, dass es noch gelte an die Armen und Leidenden zu denken? Das Christentum als Spielverderber erster Ordnung. Wer sich seines Lebens freuen will – und warum soll das böse sein? – sollte besser vom Christentum Abstand nehmen!

Natürlich: es gibt auch ganz andere Äußerungen, gerade in der Bibel. Das Lob der naiven Freude: die Lilien auf dem Felde! Die Fiktion einer unendlichen Fülle, an der der Christ Anteil haben kann. Darüber kann Gott ekstatisch gelobt werden. Aber all das greift nicht wirklich, wenn nicht die andere Seite, das Böse, die Sünde im Blick bleibt. Man könnte geradezu sagen: es ist erst die Einsicht in die Sünde, die das Imaginieren der Fülle ins Leben ruft; erst die Dramatisierung des ganzen Geschehens bringt Dynamik in das Spiel. Erst dann, wenn ich meine bisher für normal empfundenen sexuellen Wünsche als abartig erlebe kann ich wissen, was Erlösung ist. So ist es jedenfalls in den 2000 Jahren Christentum lange gewesen und diese sich eigentlich genial selbst reproduzierende Struktur bleibt erhalten, auch wenn es heute nicht mehr das Onanieren sondern die verhungernden Kinder in Afrika sind. Und sie sind es tatsächlich!

Das Problem an dieser Konstruktion ist weniger, dass sie sozusagen objektiv falsch wäre. Das lässt sich so nicht sagen, denn natürlich betrifft uns in all unserer subjektiven Zufriedenheit objektiv das Leid der anderen – auch wenn wir es nicht wahrnehmen. Und natürlich sind wir immer in Zirkel von Ausbeutung und Ungerechtigkeit verstrickt. Und wer sich selbst halbwegs ehrlich positioniert, der sucht nach Wegen der „Befreiung“. Schwierig ist es nur dann, wenn kirchlich-christlich den Menschen ein schlechtes Gewissen gemacht wird, um sie dadurch auf den Weg des Guten zu bringen. Das muss nicht bewusst geschehen. Es kann ganz einfach so sein, dass der Ausgangspunkt des kirchlichen Diskurses stets bei den Defiziten – und nie bei den Erfolgen – gesucht wird. Schaut man sich kirchliche Stellungnahmen an, dann trifft das zu. Es könnte sein, dass hier vieles schlecht geredet wird.

Noch schwieriger wird es dann, wenn seitens der Kirche die Religiosität der Menschen nicht als eine solche in ihrer Eigenständigkeit wahrgenommen wird sondern als etwas, das es erst noch zu bearbeiten und aufzuwerten gelte, bevor es den Status „ernsthaft christlich“ approbiert bekommt. Das war der immer noch nicht völlig ausgeräumte Vorwurf von Joachim Matthes, die Kirche würde auf diese Weise die Religion der Menschen nicht nur systematisch missverstehen sondern sie geradezu enteignen, um ihre Macht über sie zu sichern. Die „Laien“ könnten machen, was sie wollten: volle Anerkennung seitens der Kirche erhielten sie nie. Das Arcanum bliebe verschlossen von jovialen Wächtern. Die Illusion dabei ist, dass es hinter den verschlossenen Türen um anderes als um Macht, nämlich um Wahrheit ginge. Die Defizitzuschreibung der einen begründet die Herrschaft der anderen.

Ist das sytemnotwendig? Bedingt die inhaltliche Defizitorientierung möglicherweise die organisatorische? Auf jeden Fall stand lange am Beginn jedes Diskurses (z.B. gleich in CA II!) die von Augustin erfundene Erbsünde. Mehr Defizit geht nicht. Heute wird sie schamvoll verschwiegen – aber ist sie damit erledigt? Oder braucht es einfach eine Blickumkehr des Memento Mori mit Martin Luther: „Mitten im Tod sind wir vom Leben umfangen.“ Obwohl das das Defizit auch nicht gerade verringert. Nein: Dass Leben im Kern Leiden ist gehört zur christlichen Grundauffassung. Und davon braucht es Erlösung. Aber das hat nichts mit Defiziten sondern mit unserem Leben zu tun, wie es ist.